Transformation gestalten

„Rethinking Chemistry“

Von Klaus Bernhard Hofmann

Die Chemie ist im Wandel. Sie ist heute mit fundamentalen und strukturellen Veränderungen konfrontiert. Digitalisierung und Nachhaltigkeit sind Kräfte, die erheblichen Einfluss auf Innovationsprojekte und Investitionen haben sowie Geschäftsmodelle der Unternehmen verändern. Die Klimakrise und der Krieg in der Ukraine haben den Druck zum tiefgreifenden Wandel noch erhöht.

Vor Kurzem erst hat die Meldung der Weltorganisation für Meteorologie (WMO) aufgeschreckt, dass bereits 2026 die globale Durchschnittstemperatur eines Jahres erstmals mehr als 1,5 Grad Celsius über dem vorindustriellen Niveau liegen könnte. Und der Krieg im Osten Europas hat neben dem unermesslichen Leid für die Menschen in der Ukraine auch drastisch vor Augen geführt, dass unsere Energieversorgung und damit unsere gesamte Wirtschaft von Ländern abhängen, die unsere Werte von Demokratie, Freiheit und Gleichberechtigung nicht teilen.

Es ist daher nicht verwunderlich, dass Wissenschaft und Industrie der Chemie sich daran gemacht haben, die Chemie neu zu denken. Der Präsident der Gesellschaft Deutscher Chemiker (GDCh) Dr. Karsten Danielmeier unterstreicht, dass ein „Weiter so“ nicht mehr funktioniere. Chemie „neu zu denken“ bedeute nicht nur, immer bessere Produkte zu entwickeln und bessere Synthesen auszuarbeiten. Es heiße zuallererst, unsere etablierten Verfahren der Energie und Rohstoffgewinnung auf Basis von Erdöl, Erdgas oder Kohle als das anzusehen, was sie sind: Auslaufmodelle, die so schnell wie möglich durch nachhaltige Alternativen abgelöst werden müssen. Die fossilen Rohstoffe und Energieträger hätten uns viele Jahrzehnte dazu gedient, unseren Wohlstand zu sichern. Doch für Wehmut bleibe keine Zeit. Es sei höchste Zeit, die regenerativen Energien aus ihrem Nischendasein herauszuholen und mit aller Kraft die Energiewende umzusetzen.

„Wir müssen die Forschung zum Recycling existierender Kunststoffe massiv ausbauen, um vom Downcycling wegzukommen und Kunststoffabfall als wertvollen Rohstoff neu einzusetzen.“

Dr. Karsten Danielmeier, Präsident der Gesellschaft Deutscher Chemiker (GDCh).

Dass es bei dieser Energiewende nicht nur um die Energieerzeugung geht, sondern auch um das Recycling, um eine funktionierende Kreislaufwirtschaft, habe sich laut Danielmeier als Erkenntnis mittlerweile durchgesetzt. Der erste Ansatz zum Übergang in die Kreislaufwirtschaft bestehe darin, nicht mehr die gewünschten Eigenschaften eines Materials an die erste Stelle zu setzen, sondern vor allem auch an seine Wiederverwertbarkeit und auf den CO2-Fußabdruck schon bei der Synthese der Materialien zu achten. Die Forschung zum Recycling existierender Kunststoffe müsse massiv ausgebaut und, um vom Downcycling wegzukommen und Kunststoffabfall als wertvollen Rohstoff neu einzusetzen.

Im Zentrum der Transformation

Chemie zu denken, bedeutet auch, alle Forschungs- und Entwicklungsziele mit Blick auf Nachhaltigkeit neu auszurichten. Einen großen Schritt in diese Richtung hat Prof. Peter H. Seeberger mit seinem Center for the Transformation of Chemistry (CTC) gerade unternommen. In seinem Interview im zweiten Teil dieses Spezials erklärt er, wie es zur Gründung dieses Centers kam. Für die Chemie in Deutschland gehe es um einen grundlegenden Strukturwandel weg von Kohle Gas und fossilen Energieträgern. Seeberger konstatiert, dass Deutschland, die Apotheke der Welt, immer mehr Grundchemikalien über Outsourcing beziehe. Dabei wäre Deutschland abhängig von anderen Ländern. Das CTC will das ändern und Grundchemikalien künftig hier vor Ort aus nachwachsenden oder recycelten Materialien herstellen. Sein CTC betrachtet er als entscheidenden Impuls, eine solche Transformation anzustoßen. Es geht dabei nicht nur um die Identifizierung der großen Themenfelder, sondern um die Umsetzung von Pilotprojekten.

Jahrzehnte für den Wandel

Die Zeit wird knapp. Das CTC muss schnellstmöglich aufgebaut werden und mit der Forschung und der Zusammenarbeit beginnen, um dann mit seinen künftig rund 1.000 Mitarbeitern diese Transformation zu starten, so Peter Seeberger. Das CTC sei zwar nicht das einzige Zentrum weltweit, das sich wissenschaftlich und wirtschaftlich mit der Transformation der Chemie beschäftige. Allerdings sei es das erste Zentrum, das diese Wende ganzheitlich denke, auch im Schulterschluss mit der Wirtschaftswissenschaft. Aufgrund der Rohstoffsituation sei der Druck in Deutschland deutlich höher als in den USA oder China. Daher sei hier der beste Ort, um auf vielen Wegen und über verschiedene Hebel die deutsche Wettbewerbsfähigkeit von Chemie und Pharma zu erhalten und auszubauen.

Seeberger plädiert für eine stringente Industriepolitik. Er fordert mehr Forschung und wohldurchdachte Regulierung. Er will neue Produkte und Verfahren entwickeln. Der CTC-Initiator setzt dabei auf Automation und Methoden der Künstlichen Intelligenz. Und auf gut ausgebildete Leute. Die chemische Bildung ist eine der wichtigsten Voraussetzung für den Erfolg. Es muss viel mehr getan werden auf diesem Gebiet. Das CTC setze auch auf dieser Ebene mit Schülerlaboren und Weiterbildungen auf eine Intensivierung der chemischen Bildung und Ausbildung. Das müsse im Verbund mit der IHK und den Gewerkschaften geschehen.

Der Stellvertretende Vorsitzende des Vorstands von Evonik Industries Dr. Harald Schwager erklärt, dass der Prozess „Rethinking Chemistry“ kein Fortschritt im gewohnten Tempo sein werde, sondern Teil einer schnellen und gigantischen Transformation. Nicht nur die Chemie, sondern die Gesellschaft insgesamt steuere um. Die Bedeutung der Chemie für dieses Umsteuern sei groß, sie mache einen nachhaltigen Fortschritt eigentlich erst möglich. Diese Tatsache müsste viel stärker als bisher in der Öffentlichkeit platziert und dargestellt werden. Viele gesellschaftliche Bereiche seien derzeit von Vertrauensverlust betroffen. Argwohn, Misstrauen und Zweifel greifen um sich. Diese allgemeine Vertrauenserosion mache auch vor der Chemie nicht halt. Schwager plädiert für mehr Transparenz, denn die schaffe Glaubwürdigkeit. Wer weg wolle von fossilen Energieträgern, um den Klimawandel zu bremsen und die gefährlichen Abhängigkeiten in der Energie und Rohstoffversorgung zu reduzieren, brauche nicht nur politischen Willen und wissenschaftliche und wirtschaftliche Kompetenz, sondern auch einen tragfähigen gesellschaftlichen Konsens.

Gesellschaftliche Akzeptanz für die Chemie

Eine Bewusstseinsschärfung für die Herausforderungen der Transformation ist nötig, um die gesellschaftliche Akzeptanz der Chemie zu vergrößern. Sie ist auch für den VAA von herausragender Bedeutung, um den Wandel der Chemie zu ermöglichen. Wie kommt es, dass Wissenschaft und Industrie der Chemie unverzichtbar für wichtige Industriezweige wie Automobil, Bauen, Nahrung, Energie, Gesundheit sind und dennoch nicht als positive Treiber einer nachhaltigen Wirtschaftsweise in der breiten Öffentlichkeit und in den Medien betrachtet werden? Was kann man tun, um die gesellschaftliche Bedeutung der Chemie und ihrer Produkte für mehr Nachhaltigkeit der Öffentlichkeit klarer zu vermitteln? Kann man den Nutzen der Chemie popularisieren? Und wenn das bisher nicht gelingt, woran liegt das?

Signal an die Gesellschaft

Der VAA wird sein Jahrbuch 2023 diesen Fragen widmen. Eine Reihe von Autoren aus Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft, Verbänden, Medien und Unternehmen haben sich bereiterklärt, an diesem Jahrbuch mitzuwirken. Die Transformation der Chemie ist nicht nur ein Signal an die Industrie, sondern auch an die Gesellschaft. Diese Gesellschaft werde ärmer werden, Wohnraum teurer und die Energiepreise teurer, so Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck. Es wird die besonders treffen, die schon heute unter den zunehmenden Lasten leiden. Der VAA stimmt mit der GDCh darin überein, dass diese Gesellschaft Signale braucht, die Vertrauen schaffen, das nötig ist, um auf dem Transformationsweg erfolgreich umsetzen zu können. Es ist heute noch zu wenig im Bewusstsein verankert, dass ein „Weiter so“ mittelfristig gerade auf Kosten der sozial Schwächeren geht und vor allem die nachfolgenden Generationen betroffen sein werden.

In Zeiten, in denen der demografische Wandel zu Fachkräftemangel führt, sind Politik und Wirtschaft gefordert, die Arbeitswelt neu zu denken. Die Industrie muss ihre Attraktivität steigern und die Lebensrealität der Arbeitnehmer besser berücksichtigen, fordert Kai Beckmann, Mitglied der Merck-Geschäftsleitung und Präsident des Bundesarbeitgeberverbands Chemie (BAVC). Die digitale Kompetenz müsse gesellschaftsweit gesteigert werden und schon früh in den Lehrplänen an Schulen verankert werden. Denn nur über sie sei Teilnahme am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben erfolgreich möglich. Beckmann setzt vor allem auf die Unternehmen, um den Weg in eine gerechte und nachhaltige Zukunft zu gestalten.

Treiber der Transformation

Mit 580.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sind die Chemie- und Pharmaunternehmen dabei der entscheidende Treiber. Ihr prominentester Vertreter ist der Verband der Chemischen Industrie (VCI). Er arbeitet schon seit vielen Monaten zu an der Herstellung der Bedingungen, um den Erfolg der Transformation der Branche zu meistern. Dr. Wolfgang Große Entrup, Hauptgeschäftsführer des VCI, und Ralf Fücks, Gründer des Zentrums liberale Moderne in Berlin, haben in ihrem gemeinsamen Papier auf die Bedeutung des grundlegenden Konsenses zwischen Politik, Zivilgesellschaft und Unternehmen über eine nachhaltige Zukunft der Chemieindustrie in Deutschland und Europa verwiesen. Erst eine solche Verständigung ermögliche eine langfristige Orientierung für Regierungshandeln und Privatwirtschaft.

Dass die Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) ins gleiche Horn stößt und für die Transformation staatliche Anschubhilfen in Höhe von 100 Milliarden Euro jährlich fordert, stimmt zuversichtlich. Der Bundesvorsitzende Michael Vassiliadis hat kürzlich einen Aktionsplan vorgelegt, den die IG BCE mit den Umweltorganisationen DNF, German Watch und WWF entwickelt hatten.  Diese Investitionen seien nötig beim Ausbau der erneuerbaren Energien, der Infrastruktur und der Speicherkapazitäten, so Vassiliadis, der sich besorgt wegen der hohen Preise für Gas und Strom in Europa im Vergleich zu denen in USA und China zeigte. Dieser massive internationale Wettbewerbsnachteil habe bereits Folgen: 40 Prozent der Chemieunternehmen drosselten ihre Produktion, 23 Prozent verlagerten sie ins Ausland und zehn Prozent wollten ihre Anlagen stilllegen.

Nur eine gemeinsame Kraftanstrengung aller Stakeholder der Chemie in Wirtschaft und Wissenschaft und der Politik wird das Gelingen der Transformation der Chemie ermöglichen. Die ersten Schritte sind getan. Die Bereitschaft zur Zusammenarbeit ist erkennbar.

Interview mit Prof. Peter H. Seeberger

Kreislaufwirtschaft ist eine Generationenaufgabe

Um die Transformation der Chemie weiter voranzutreiben, soll das Großforschungszentrum Center for the Transformation of Chemistry (CTC) entstehen. Initiator des CTC ist Prof. Peter H. Seeberger, der am Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung die Abteilung Biomolekulare Systeme leitet und außerdem Professor an der Freien Universität Berlin sowie Honorarprofessor an der Universität Potsdam ist. VAA-Geschäftsführer Kommunikation Klaus Hofmann hat sich mit Seeberger zum Interview am Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung in Potsdam getroffen.

VAA Magazin: Herr Prof. Seeberger, wie kam es zur Idee, das Center for the Transformation of Chemistry (CTC) ins Leben zu rufen?

Seeberger: Im Jahr 2020 haben Bund und Länder 2,5 Milliarden Euro aus dem Strukturwandelfonds in Aussicht gestellt, um zwei neue Großforschungszentren aufzubauen. Ich wurde dann von mehreren Seiten angesprochen und habe schnell erkannt: Das ist eine einmalige Gelegenheit für die Chemie in Deutschland. Es geht ja um einen grundlegenden Strukturwandel, weg von Kohle, Gas und fossilen Energieträgern, und zwar in den bisherigen Braunkohlegebieten, in diesem Fall also in der Sächsischen Lausitz und im Mitteldeutschen Revier zwischen Sachsen und Sachsen-Anhalt. Gemeinsam mit einem Mitarbeiter habe ich dann einen Vorschlag erarbeitet und im April 2021 eingereicht. Für uns ging es darum, was für Deutschland, was für die Region das Richtige ist.

Warum jetzt? Gab es einen konkreten Auslöser?

Sicherlich nicht nur einen. Ein Beispiel will ich nennen: Schon vor Corona war klar, dass Deutschland Schwierigkeiten bei Medikamenten bekommt. Die „Apotheke der Welt“ schließt langsam, wir produzieren immer weniger. Immer mehr Grundchemikalien werden über Outsourcing bezogen. Dabei machen wir uns abhängig von anderen Ländern. Das zu ändern und Grundchemikalien künftig hier vor Ort aus nachwachsenden oder recycelten Materialien herzustellen, ist in einer Arbeitsgruppe oder einem kleinen Institut nicht zu schaffen. Selbst ein Großforschungszentrum kann das nicht allein stemmen, aber es kann den entscheidenden Impuls für eine solche Transformation geben. Da haben wir eine Chance gesehen und uns diesem Thema gewidmet.

Wie sehen Sie denn die Entwicklung der Chemie insgesamt und wie kann das CTC dazu beitragen, die deutsche Wettbewerbsfähigkeit in Chemie und Pharma zu erhalten?

Ich denke, das CTC kann ein wichtiger Katalysator sein und die Entscheidung für das CTC war ein starkes Signal in diese Richtung. Wir müssen uns erst einmal die Bedeutung der Chemie für Deutschland anschauen, mit knapp einer halben Million direkter und noch viel mehr indirekter Arbeitsplätze. Das stellt eine immense Wertschöpfung dar. Wenn wir uns dann noch anschauen, was das in Ostdeutschland bedeutet, bekommen wir ein besseres Bild. Im Mitteldeutschen Revier, dem Chemiedreieck Halle-Leipzig, liegt ja zum Teil die Wiege der Chemie in Deutschland. Zu DDR-Zeiten, in den Achtzigern, gab es bis zu 300.000 Arbeitsplätze in der Chemie. Nach der Wende sind die dann auf 19.000 Arbeitsplätze in Sachsen und Sachsen-Anhalt geschrumpft und heute ist man wieder bei ungefähr 31.000 Arbeitsplätzen.
 
Heute kommt nur noch ein Prozent der deutschen Patente in der Chemie aus Ostdeutschland – das sind also weit überwiegend Produktionsbetriebe. Verändern sich die Energie- und Rohstoffpreise, bekommt Deutschland Schwierigkeiten und Ostdeutschland läuft Gefahr, zum zweiten Mal in 30 Jahren den Großteil seiner Chemieindustrie zu verlieren. Der Ukraine-Krieg hat diese Entwicklung noch einmal stärker beleuchtet, aber das Problem wird auch nach der Krise bestehen. Ich sehe hier eine große Chance – vor allem für den Osten, aber auch für ganz Deutschland: Wir müssen die Industrie entwickeln und in der Forschung eine Spitzenposition einnehmen.

Was ist die größte Herausforderung für die deutsche Chemie und die Industrie: Energiepreise? Rohstoffpreise?

Es gibt kaum eine Industrie, die so effizient arbeitet wie die deutsche Chemieindustrie – sie hat sich über 170 Jahre hochgradig optimiert. Aber die Ausgangsstoffe sind eben unsere fossilen Rohstoffträger Öl und Gas. Wir brauchen für Deutschland aber nachwachsende Rohstoffe und vermehrtes Recycling. Und das heißt ganz klar: Die Chemieindustrie muss weitestgehend in eine Kreislaufökonomie verwandelt werden. Das ist eine Generationenaufgabe, und genau da glauben wir, dass ein Großforschungszentrum als Katalysator wirken kann. Man muss sich mit vielen kleinen Teilschritten beschäftigen, um ein komplexes, hoch optimiertes System wirklich grundlegend zu ändern.

Und wir müssen neue Herangehensweisen an das Problem finden – es gilt, 170 Jahre Vorsprung der traditionellen Chemieindustrie aufzuholen. Denn die baut auf Braunkohle, Steinkohle, Erdöl und Erdgas auf. Das zu verändern, ist eine riesige Aufgabe, und dabei müssen wir ja auch wirtschaftlich und gesellschaftlich akzeptable Lösungen finden. Deutschland hat nur eine Chance, wenn wir neue Arten der Chemie aufbauen. In einem reinen Preiskampf, ob Energie oder Löhne, können wir mit vielen Konkurrenten gerade in Asien nicht mithalten.

Was meinen Sie mit neuen Arten der Chemie?

Neue Prozesse, basierend auf neuen Rohstoffen. Gehen wir einmal von Holz aus: Eine Zellstofffabrik nutzt 50 Prozent des Baumes. Sie nutzt die Cellulose, nicht aber Hemicellulose oder Lignin, die ebenfalls anfallen. Dieses Material wird verbrannt. Wir könnten aber beispielsweise das Lignin nehmen, um neue Chemie zu machen. UPM hat in Leuna 750 Millionen Euro investiert, um Lignin als Füllstoff zu nutzen, daraus kann man viele andere Materialien herstellen. Da haben wir dann aber auch ein logistisches Problem: Bei einer Öl- oder Gaspipeline muss nur ein Hahn aufgedreht werden. Setzen wir Holz ein, müssen wir das erst einmal logistisch zusammenführen. Eine einzige Zellstofffabrik in Deutschland nutzt zwei Prozent des deutschen Eisenbahnverkehrs, weil sie dezentral arbeitet. Ein radikaler Wechsel im bestehenden System hin zu einem neuen, nachhaltigen Kreislaufsystem ist so kaum denkbar. Wir müssen schrittweise beginnen und dieser erste Schritt ist oft schwierig. Hier möchte das CTC im Dialog mit seinen vielen Industriepartnern die verschiedenen Interessen und Ansatzmöglichkeiten ausloten.

Wird diese Herangehensweise, sich mit den Unternehmen auszutauschen, bisher nur vom CTC so praktiziert?

Wir sind nicht die Einzigen, ganz klar. Es gibt weltweit Chemikerinnen und Chemiker, die sich über solche Sachen Gedanken machen. Aber typischerweise sehr viel spezifischer, also zum Beispiel hinsichtlich eines neuen Katalysators für spezifische Reaktionen. Ich denke, wir sind die ersten, die das wirklich ganzheitlich versuchen – auch zum Beispiel im Schulterschluss mit der Wirtschaftswissenschaft. Aufgrund der Rohstoffsituation ist der Druck in Deutschland deutlich höher als in den USA oder in China. Aber die chemische Industrie in Deutschland ist sehr stark. Kolleginnen und Kollegen in England möchten bei uns mitarbeiten, gerade weil es die chemische Industrie im Vereinigten Königreich so gar nicht mehr gibt. In Deutschland müssen wir jetzt agieren, damit wir nicht die gleiche Entwicklung erleben.

Welche sind die größten Hebel, um das Projekt voranzubringen?

Es braucht eine stringente Industriepolitik. Mehr Forschung und wohldurchdachte Regulierung. Es geht darum, neue Produkte und Verfahren zu entwickeln. Dabei wollen wir auf Automation und Methoden der Künstlichen Intelligenz setzen. Am Ende des Tages brauchen wir gut ausgebildete Leute; die haben wir in Deutschland. Deswegen müssen wir attraktive Arbeitsplätze anbieten. Dies darf nicht nur auf der Ebene der Akademikerinnen und Akademiker stattfinden. So ein Leuchtturm wie das CTC kann dabei in den globalen Wettbewerb eingreifen und auch Fachkräfte anziehen.
 
Finden Sie mit Ihrem Vorhaben Gehör in Politik und Gesellschaft?  Wie steht es um die Akzeptanz der Chemie und ihrer Bedeutung für Wirtschaft, Industrie und Gesellschaft?

Wir müssen das Verständnis für die Chemie in der Politik und in der Öffentlichkeit stärken. Der Ruf als Verschmutzer war ja in der Vergangenheit teilweise durchaus gerechtfertigt, aber gerade im Umweltschutz sind wir in Deutschland mittlerweile führend. Wir tun uns keinen Gefallen, wenn wir jetzt Dinge ins weniger regulierte Ausland verlagern. Da sehe ich auch Chancen in Deutschland, besonders was die Entwicklung neuer regulatorischer Standards angeht. Deswegen sieht sich das CTC als eine Brücke zwischen der Wissenschaft und der Industrie, aber auch der Gesellschaft und der Politik. Wir sind unabhängig und damit auch ein guter Partner für die verschiedenen Branchen.

Würden Sie so weit gehen, zu sagen, dass Ihre Tätigkeit große Unternehmen dazu bringen könnte, ihre Produktion in verschiedenen Bereichen der Wertschöpfungskette in Deutschland zu lassen?

Das CTC wird das nicht allein schaffen, aber seine Gründung ist ein klares Bekenntnis der Bundesregierung zur Forschung. Durch Zusammenarbeit können wir dazu animieren, gemeinsam zu forschen und die Umsetzung dabei im Land zu lassen. Wir wollen als CTC nicht mit tollen Plänen bekannt werden, die dann in den USA oder Asien umgesetzt werden. Global gesehen wäre das vielleicht gut, aber wir werden durch deutsche Steuerzahlerinnen und -zahler finanziert – und unser Ziel muss sein, die Situation in Deutschland und in Europa zu verbessern. Wenn wir dazu einen Beitrag leisten können, wäre das schon ein Riesenerfolg. Wir haben bisher aus den deutschen chemischen und pharmazeutischen Industrien extrem positive Signale bekommen.

Welchen Zeitrahmen sehen Sie beim Wandel von einer linearen hin zu einer zirkulären Chemiewirtschaft?

Wir haben eine dreijährige Aufbauphase, um das jetzt ins Leben zu rufen, und danach haben wir bis 2038, bis das Institut seine Stärke von 1.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern erreicht. Das CTC muss schnellstmöglich aufgebaut werden und mit der Forschung und der Zusammenarbeit beginnen. Die Transformation der Chemie wird Jahrzehnte dauern. Aber es müssen erste Ergebnisse und erste industrielle Prozesse innerhalb der nächsten fünf bis zehn Jahre kommen.

Das Schöne ist: Das Ziel des CTC wird nicht nur sein, zu forschen, sondern auch umzusetzen. Dazu planen wir einen eigenen Risikokapitalfonds. Wir brauchen gute Ideen und gute Leute. Die gibt es und die bilden wir auch weiterhin aus. Und das Ziel ist dann, hier direkt vor Ort mit ersten kleinen Firmenansiedlungen das ganze Projekt voranzubringen. Wichtig ist, den Leuten auch zu zeigen, dass man das umsetzen kann. Am CTC werden wir mit neuen Firmen, mit bestehenden Firmen und mit Familienbetrieben zusammenarbeiten. Wir werden einen pragmatischen Ansatz finden, um das umzusetzen.

Können Sie konkrete Beispiele für Bereiche nennen, in denen man das Umdenken hin zur Kreislaufwirtschaft besonders konkret darstellen kann?

Im Bereich Material ist es ganz offensichtlich. Zum Beispiel in der Automobilindustrie: Da steckt ganz viel Chemie drin. Große Firmen wie BMW sagen, dass sie bis 2040 so viel wie möglich recyceln möchten – ideal wäre das ganze Fahrzeug. Windflügel von Windanlagen sind auch ein gutes Beispiel – und gleichzeitig ein Riesenproblem. Bisher sind die Windflügel, die eingesetzt werden, Sondermüll. Man kann sie nicht zerkleinern und wenn man sie verbrennt, macht man die Anlagen kaputt. Also werden sie zur Entsorgung eingegraben. Es gibt da in vielen Bereichen genügend zu tun, auch zum Beispiel bei Batterien. Jedes Mal muss die Frage sein: Kann man Materialien herstellen, die eine ähnliche Funktion haben, aber danach recycelt werden können und nicht in der Umwelt verbleiben? Die grundlegende Denkweise muss sich völlig verändern.

Gibt es bereits eine konkrete Zusammenarbeit mit Firmen?

Wir arbeiten mit großen und kleinen Firmen zusammen. Momentan sind bereits 140 Player dabei. Und es werden sicher noch mehr werden. Ursprünglich haben wir uns auf das Mitteldeutsche Revier konzentriert. Wir möchten uns nicht als Konkurrenz zu den Kolleginnen und Kollegen zum Beispiel in NRW verstehen. Es gibt so viele Aufgaben, die wir ohnehin nicht allein stemmen können: Wir müssen das gemeinsam machen. Hier müssen wir nun auch die genauen Themen für das CTC definieren. Die großen Themenfelder haben wir, aber wir haben noch keine Pilotprojekte. Das passiert in den kommenden sechs Monaten.

Sind Sie auch mit anderen Forschungseinrichtungen international verbunden oder vernetzt?

Natürlich. Wir müssen einerseits eine lokale Anbindung haben. Wir haben extrem gute Kontakte in die Chemie- und Pharmaindustrie in NRW und wir möchten einen sehr kooperativen Ansatz fahren, denn es gibt wirklich genug zu tun. Wir haben eine Zusammenarbeit mit Hochschulen, hier im Land und auch in der Tschechischen Republik und Polen, weil es wichtig ist, Nachbarn dabeizuhaben. Andererseits sind auf globaler Ebene meine ehemaligen Kolleginnen und Kollegen vom MIT dabei, außerdem Oxford, wo ich lange Gastprofessor war. RIKEN in Japan ist dabei, die Universität Glasgow – und es gibt erste Gespräche mit Saudi-Arabien und Singapur. Das CTC möchte eine globale Community aufbauen.

Was könnte das CTC dazu beitragen, das Bild der Chemie zu verbessern und stärker nach außen zu transportieren?

Das Bild der Chemie ist sehr heterogen. Einerseits ist ein Störfall in der Chemie immer sehr eindrücklich und ruft ein bestimmtes Bild hervor. Auch sehen die wenigsten Menschen, wo überall Chemie drinsteckt. Beim Mobiltelefon, zum Beispiel, sehen die meisten elektronische Bauteile, aber nicht den Kunststoff oder den Klebstoff. Andererseits ist hier im Mitteldeutschen Chemiedreieck die Wahrnehmung eine völlig andere. Als Franke hätte ich vermutet, dass gerade in Ostdeutschland, wo so viele Umweltsünden begangen wurden, eine andere Stimmung herrscht, aber Chemie hat dort einen hohen Stellenwert. Die Menschen in der Region Leuna-Buna-Bitterfeld wissen, wie sehr die Chemie dort zum Wohlstand beigetragen hat und beiträgt. Das macht es für das CTC erstmal deutlich einfacher.

Es wird viel Bildung nötig sein, auf allen Gebieten und von Anfang an.

Ja, unbedingt. Die chemische Bildung ist die andere, wichtige Seite der Medaille. Da muss viel mehr getan werden. Ein typisches Problem ist, dass es nicht mehr genügend Chemielehrerinnen und -lehrer gibt und das Fach als besonders schwierig dargestellt und verstanden wird. Auch da will das CTC ansetzen: mit Schülerlaboren und mit Weiterbildungen. Hier sind wir eng mit der IHK und den Gewerkschaften vernetzt. Im Studium muss das dann weitergehen. Ich denke, die nachhaltige Chemie ist hier eine Chance, ein positiveres Bild zu zeigen.

Warum gibt es dieses negative Bild überhaupt?

Die Produkte der Chemieindustrie sind essenziell, aber das „historische“ Image der Chemie ist ein wichtiger Teil des Ganzen. Deswegen glaube ich, dass dieses erste Großforschungszentrum für die Chemie in Deutschland nicht nur ein Signal ist an die Industrie, sondern auch an die Gesellschaft.

Es ist die klare Aufgabe des CTC, für die Chemie zu kommunizieren: Chemie ist wichtig und wir können Lösungen anbieten. Ohne Düngemittel könnten wir die Bevölkerung heute nicht mehr ernähren. Und die Pille zur Geburtenkontrolle hat gesellschaftlich wahnsinnig viel zur Gleichberechtigung beigetragen. Dann gibt es den ganzen Bereich der Gesundheit und Hygiene, angefangen mit der Seife. Das alles wäre ohne Chemie nicht denkbar. Die Pandemie hat das noch einmal in den Vordergrund gerückt, weil plötzlich keine Desinfektionsmittel da waren oder Schmerzmittel wie Paracetamol knapp waren, die in Deutschland nicht mehr hergestellt werden. Dann merkt jeder ganz plötzlich, was uns die Chemie bietet. Sie trägt ganz wesentlich zum Zusammenleben in unserer Gesellschaft bei. Aber was die Kommunikation angeht, haben wir noch deutlich Luft nach oben.

Zahlen und Fakten

Mit 476.987
Beschäftigtenund einem Umsatzvon 261,2 Milliarden Euro im Jahr 2022 gilt die chemische Industrie zu den tragenden Säulen der deutschen Industrielandschaft, berichtet der Verband der chemischen Industrie (VCI) in seiner im Herbst 2022 veröffentlichten Broschüre „Chemiewirtschaft in Zahlen“. Nach der Automobilindustrie und dem Maschinenbau folgt die Chemie damit auf Platz drei als einer der wichtigsten Wirtschaftszweige in Deutschland.

Etwa zehn
Prozentdes Stroms und ein Fünftel des gesamten Energieverbrauchs in Deutschland wird in den Anlagen der chemisch-pharmazeutischen Industrie verbraucht. Viele umfangreiche Produktionsprozesse benötigen große Mengen an Wärme und Strom – aktuell ist Erdgas als fossiler Rohstoff mit Abstand der wichtigste Energieträger. In Zukunft könnten Biomasse, Kunststoffabfälle und Kohlendioxid als Rohstoff oder Wasserstoff als wichtige Alternative eingesetzt werden.

Ungefähr sieben
MillionenTonnen treibhausgasarmen Wasserstoffs und weitere 500 Terawattstunden Strom aus erneuerbaren Energiequellen werden in Deutschland jährlich benötigt, um die Klimaziele der Europäischen Union bis 2050 zu erreichen. Das beziffert doppelt so viel Strom aus erneuerbaren Quellen wie der deutschen Chemieindustrie aktuell zur Verfügung stehen. Laut VCI hat die chemische Industrie jedoch enormes Potenzial für eine Reduzierung der Treibhausgasemissionen: in eigenen Produktionsprozessen, aber auch durch einen Einsatz ihrer Produkte in anderen Wirtschaftszweigen – vor allem jedoch durch das Einführen einer Kreislaufwirtschaft.

925 Millionen
TonnenKohlendioxid (CO₂) hat die Chemieindustrie weltweit im Jahr 2021 verursacht, berichtet die Internationale Energieagentur (IEA). Für eine klimaneutrale Industriegesellschaft könnte Kohlenstoff als unverzichtbarer Rohstoff für zahlreiche Produktlinien der Branche in eine sinnvolle Kreislaufwirtschaft zurückgeführt werden, statt ihn als CO₂ in die Atmosphäre auszustoßen. Eine Idee für eine umweltverträgliche Ökonomie ist das Prinzip der Photosynthese: Sonnenenergie, Wasser und CO₂ werden in chemische Energie umgewandelt (Power-to-X). Für die chemische Industrie könnte diese Form von CO₂-Recycling die Basis für die Substitution von Erdöl und Erdgas als Basisrohstoff darstellen.

Im Oktober 2020
ist die EU-Chemikalienstrategie für Nachhaltigkeit (CSS) von der Europäischen Kommission vorgestellt worden. Neben den Hauptzielen wie der Förderung innovativer Lösungen für sichere und nachhaltige Chemikalien und dem höheren Schutz von Menschen und Umwelt vor gefährlichen Chemikalien möchte die Kommission mithilfe der CSS auch innovative Produkte fördern, Doppelarbeit bei Bewertungen schlechter Ersatzstoffe vermeiden und die Zusammenarbeit innerhalb der EU sowie global stärken. Es soll ein Gleichgewicht zwischen einem vielfältigen und innovativen „chemischen Werkzeugkasten“ sowie sicheren und nachhaltigen Produkten und Herstellungsmethoden entstehen.

80 Prozent
des grünen Wasserstoffs werden aktuell nach Deutschland importiert, lautet eine VCI-Schätzung. Wichtige Wertschöpfungsketten siedeln sich dort an, wo Wasserstoff in großen Mengen vorkommt und günstig produziert werden kann. Nach Ansicht des Branchenverbandes sollte ein wichtiges Vorhaben der Politik zukünftig sein, einen möglichst großen Teil der Wasserstoffproduktion und damit der Wertschöpfungsketten in Deutschland beziehungsweise in Europa aufzubauen und eine Abwanderung zu verhindern.

Sozial verträglich
soll nach Meinung der Chemiebranche der Weg des ökologischen Wandels sein, der am Ende der klimaneutralen Chemietransformation eingeschlagen wird, um sowohl Beschäftigung und Einkommen zu sichern. Der Umbau in eine klimaneutrale Industriegesellschaft kann nur dann den erforderlichen gesellschaftlichen Rückhalt finden, wenn er auch zu einem sozialen und wirtschaftlichen Erfolgsmodell für Deutschland und darüber hinaus wird.

Wie funktioniert Kreislaufwirtschaft?
Sie ist ein Modell der Produktion und des Verbrauchs, bei dem bestehende Materialien und Produkte so lange wie möglich geteilt, geleast, wiederverwendet, repariert, aufgearbeitet und recycelt werden. Auf diese Weise werde der Lebenszyklus der Produkte verlängert, beschreibt das Europäische Parlament das Prinzip in einem zuletzt im Februar 2023 aktualisierten Artikel. In der Praxis bedeutet dies, dass Abfälle auf ein Minimum reduziert werden. Nachdem ein Produkt das Ende seiner Lebensdauer erreicht hat, verbleiben die Ressourcen und Materialien so weit wie möglich in der Wirtschaft. Sie werden also immer wieder produktiv weiterverwendet, um weiterhin Wertschöpfung zu generieren. Die Kreislaufwirtschaft steht im Gegensatz zum traditionellen, linearen Wirtschaftsmodell, der auch mitunter als „Wegwerfwirtschaft“ bezeichnet wird. Dieses Modell setzt auf große Mengen möglichst billiger, leicht zugänglicher Materialien und Energie.