Interview mit Christof Böhmer

Schwerbehinderung am Arbeitsplatz

Im Arbeitsverhältnis genießen Menschen mit schweren Behinderungen besonderen Schutz. Aber wann gelten Beschäftigte überhaupt als schwerbehindert? Damit sind Personen mit einem durch das zuständige Versorgungsamt festgestellten Grad der Behinderung von mindestens 50 gemeint, erklärt VAA-Jurist Christof Böhmer im Interview mit dem VAA Magazin. Aber auch mit einem geringeren Grad der Behinderung zwischen 30 und 50 erhält die betroffene Person einen gleichartigen Schutz gegen die Kündigung ihres Arbeitsverhältnisses, wenn sie durch einen Bescheid der zuständigen Arbeitsagentur einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt wurde.

VAA Magazin: Auf welche Weise sind schwerbehinderte und ihnen gleichgestellte Menschen bei einer Kündigung ihres Arbeitsverhältnisses besonders geschützt?

Böhmer: Zunächst einmal unterliegen Menschen mit schweren Behinderungen sowie ihnen gleichgestellte Menschen demselben arbeitsrechtlichen Schutz gegen Kündigungen wie andere Beschäftigte. Dies betrifft vor allem Regelungen des Kündigungsschutzgesetzes. Der besondere Schutz Schwerbehinderter oder Gleichgestellter ersetzt also nicht den allgemein bestehenden Kündigungsschutz, sondern ist daneben zu betrachten.

Welche zusätzlichen Anforderungen an eine wirksame Kündigung bestehen?

Jede Kündigung eines schwerbehinderten Menschen oder eines Gleichgestellten bedarf der vorherigen Zustimmung des Integrationsamtes, das in einigen Bundesländern auch die Bezeichnung Inklusionsamt trägt. Eine ohne vorherige Zustimmung erfolgte Kündigung ist allein aus diesem Grunde bereits unwirksam.

Gilt dies auch für außerordentliche, also fristlose Kündigungen?

Ja, dies gilt ausnahmslos. Allerdings gelten bei außerordentlichen Kündigungen besondere Fristen. So soll eine Entscheidung des Integrationsamtes im Falle der ordentlichen Kündigung innerhalb eines Monats ab Antragstellung durch den Arbeitgeber erfolgen. Bei der beabsichtigten außerordentlichen Kündigung hat das Amt eine Frist zur Entscheidung von nur zwei Wochen. Erfolgt eine Entscheidung innerhalb dieser Frist nicht, gilt die Zustimmung als erteilt und die Kündigung kann ausgesprochen werden.

Nach welchen Kriterien entscheidet das Integrationsamt?

Zunächst ist darauf hinzuweisen: Das Integrationsamt stellt keine weitere arbeitsgerichtliche Instanz dar. Daher erfolgt eine arbeitsrechtliche Vorprüfung der Kündigung dort grundsätzlich nicht. Gleichwohl muss das Integrationsamt zur Abwägung der beiderseitigen Interessen auch das Kündigungsinteresse des Arbeitgebers gewichten. Hierzu muss es zumindest eine Offensichtlichkeitsprüfung bezüglich der vom Arbeitgeber im Antrag genannten Kündigungsgründe vornehmen. Offensichtlich unwirksamen Kündigungen kann keine Zustimmung erteilt werden.

Dreh- und Angelpunkt der Prüfung durch das Integrationsamt ist im Übrigen aber die Frage, ob die beabsichtigte Kündigung mit der Behinderung in einem Zusammenhang steht. Kommt das Integrationsamt zu dem Ergebnis, dass dies nicht der Fall ist, wird es die Zustimmung erteilen. Schwerbehinderte oder ihnen gleichgestellte Arbeitnehmer sollen in solchen Fällen gegenüber Nichtbehinderten nicht bessergestellt werden.

Was ist aber, wenn der Grund für die Kündigung mit der Behinderung in einem Zusammenhang steht?

Hier muss das Integrationsamt eine Abwägung durchführen, unter besonderer Berücksichtigung des Schutzzwecks der Regelungen im neunten Buch des Sozialgesetzbuchs – SGB IX. Das Integrationsamt muss entscheiden, ob das Beendigungsinteresse des Arbeitgebers im Einzelfall das Fortführungsinteresse des schwerbehinderten beziehungsweise ihm gleichgestellten Menschen überwiegt. Dabei ist insbesondere zu prüfen, ob das Unternehmen das ihm Mögliche und Zumutbare zur Erhaltung des Arbeitsverhältnisses und der Einsatzmöglichkeiten des betroffenen Mitarbeiters im Rahmen seiner Fähigkeiten unternommen hat.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Gern: Nehmen wir an, es gehört zu den vertragsgemäßen Aufgaben eines Arbeitnehmers, der Krankenpflegehelfer ist, Patienten aus dem Pflegebett zu heben oder zu wenden. Aufgrund einer Schwerbehinderung ist es ihm nun nicht mehr möglich, schwere Lasten zu heben, sodass er seine vertraglich geschuldete Leistung nicht mehr wie vor dem Eintritt der Behinderung erfüllen kann. Beabsichtigt der Arbeitgeber in einem solchen Fall den Ausspruch einer personenbedingten Kündigung, würde das Integrationsamt prüfen, ob es dem Arbeitgeber nicht zuzumuten wäre, die Arbeit anders zu verteilen, sodass dem Schwerbehinderten statt der mit dem Heben schwerer Lasten verbundenen Aufgaben andere, ebenso vertragsgemäße Arbeiten übertragen werden könnten. 

Eine andere Frage ist, ob der Arbeitgeber nicht gegebenenfalls unter Inanspruchnahme besonderer Leistungen zur Teilhabe schwerbehinderter Menschen am Arbeitsleben technische Einrichtungen u schaffen kann, die es dem Schwerbehinderten ermöglichen, die geschuldete Arbeitsleistung trotz der Behinderung zu erbringen. Die Mittel für diese Einrichtungen stehen dem Integrationsamt aufgrund der zweckgebunden erhobenen sogenannten Ausgleichsabgabe zur Verfügung. 

Um was für eine Abgabe handelt es sich dabei genau?

Arbeitgeber ab einer Beschäftigtenanzahl von jahresdurchschnittlich 20 Arbeitnehmern sind verpflichtet, schwerbehinderte Arbeitnehmer zu beschäftigen. Ab einer Beschäftigtenzahl von 60 Beschäftigten beträgt der Anteil der mit schwerbehinderten Menschen zu besetzenden Arbeitsplätze mindestens fünf Prozent. Geschieht dies nicht, ist hierfür eine Ausgleichsabgabe an das Integrationsamt zu bezahlen, die je nach Unterschreitung dieser Quote zwischen 125 und 320 Euro pro Monat beträgt.

Wer ist in dem Zustimmungsverfahren beim Integrationsamt zu beteiligen?

Als Antragsteller und -gegner sind natürlich zunächst Arbeitgeber und Arbeitnehmer an dem Verfahren beteiligt. Darüber hinaus holt das Integrationsamt in dem Verfahren Stellungnahmen des Betriebsrats, soweit im Betrieb vorhanden, und der Schwerbehindertenvertretung ein.

Was ist, wenn eine Schwerbehinderung zwar vorliegt, aber noch nicht vom Versorgungsamt festgestellt ist: Sind Schwerbehinderte dann nicht vor Kündigungen geschützt?

Tatsächlich ist der besondere Schutz schwerbehinderter Menschen vor einer Kündigung des Arbeitsverhältnisses von der Feststellung des Grades der Behinderung abhängig. Allerdings dürfen dem schwerbehinderten Menschen keine Nachteile dadurch erwachsen, dass die Bearbeitung seines Antrages auf Feststellung der Behinderteneigenschaft vom Versorgungsamt verzögert bearbeitet wird. Die Rechtsprechung weitet den Schutz daher auf diejenigen aus, die den Antrag auf Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft so rechtzeitig vor dem Ausspruch der Kündigung stellten, dass bei regelmäßigem Verlauf die Entscheidung bei Kündigungsausspruch bereits hätte ergangen sein müssen. Hiervon geht die Rechtsprechung grundsätzlich aus, wenn der Antrag mindestens drei Wochen vor dem Ausspruch der Kündigung gestellt wurde. Gleiches gilt für Anträge auf Erhöhung des Grades der Behinderung oder dem Antrag auf Gleichstellung mit einem Schwerbehinderten, der von der Agentur für Arbeit trotz Antragstellung vor mehr als drei Wochen bis zum Kündigungszeitpunkt noch nicht beschieden wurde.

Aber ob es eines Antrags auf Gleichstellung bedarf, weiß der betroffene Mensch mit Behinderungen doch erst dann, wenn der Bescheid des Versorgungsamtes vorliegt, dass eine Schwerbehinderung nicht vorliegt und der Grad der Behinderung zwischen 30 und 50 beträgt.

Das ist richtig. Gleichwohl bleibt es bei der vorgenannten Dreiwochenfrist auch für den Gleichstellungsantrag. Hintergrund ist: Der Gleichstellungsantrag kann auch vorsorglich für den Fall gestellt werden, dass lediglich ein Grad der Behinderung zwischen 30 und 50 festgestellt wird. Es ist daher grundsätzlich zu empfehlen, den Gleichstellungsantrag zeitgleich mit dem Antrag auf Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft vorsorglich zu stellen, wenn die Besorgnis besteht, dass der Arbeitgeber eine Kündigung des Arbeitsverhältnisses in Erwägung zieht.

Was für Schutzrechte genießen Schwerbehinderte im gelebten Arbeitsverhältnis?

Zunächst einmal sind Arbeitgeber gemäß § 164 Absatz 1 SGB IX grundsätzlich gesetzlich verpflichtet zu prüfen, ob ein freier, zu besetzender Arbeitsplatz nicht mit einem gleichgeeigneten schwerbehinderten Bewerber besetzt werden kann. Dies führt allerdings nicht zu einem Einstellungsanspruch des schwerbehinderten Bewerbers.

Welche Folge hat es denn, wenn der Arbeitgeber eine solche Prüfung nicht vornimmt oder jemanden diskriminierend wegen seiner Behinderung nicht einstellt?

Prüft der Arbeitgeber nicht – mindestens durch Anfrage bei der Arbeitsagentur – ob es geeignete schwerbehinderte Bewerber für die Stelle gibt, kann der Betriebsrat allein aus diesem Grund die Zustimmung zur Neueinstellung eines anderen Bewerbers versagen. Diese darf dann grundsätzlich zunächst nicht erfolgen.

Jede Diskriminierung bei der Einstellung führt zudem neben einem möglichen Schadensersatzanspruch zu einem Anspruch auf Entschädigung für den erlittenen immateriellen Schaden von bis zu drei Monatsentgelten – eine Art Schmerzensgeld – nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz – AGG § 15 Absatz 2.

Muss ein schwerbehinderter Arbeitnehmer gegenüber dem Arbeitgeber mitteilen, dass eine Schwerbehinderung besteht?

Nein! Grundsätzlich besteht eine solche Auskunftspflicht nicht, obgleich der Arbeitgeber so möglicherweise zur Zahlung einer Ausgleichsabgabe verpflichtet ist, die er bei Kenntnis der Schwerbehinderung vermeiden könnte. Dieses Recht, die Schwerbehinderung geheim zu halten, schließt sogar das Recht ein, auf eine entsprechende Frage des Arbeitgebers – beispielsweise im Bewerbungsprozess – wahrheitswidrig zu verneinen.

Spätestens drei Wochen nach dem Zugang einer Kündigung muss dem Arbeitgeber aber das Bestehen der Schwerbehinderung angezeigt werden, um den besonderen Kündigungsschutz in Anspruch nehmen zu können. Zudem erfordert natürlich die Inanspruchnahme der Schwerbehinderten zustehenden fünf zusätzlichen Urlaubstage pro Jahr, dass hierfür die Schwerbehinderung gegenüber dem Arbeitgeber offenbart wird.

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Urteil

Aufhebungsvertrag: Wirksamkeit trotz Androhung einer fristlosen Kündigung

Ein Aufhebungsvertrag kann unter Verstoß gegen das Gebot fairen Verhandelns zustande kommen und dadurch unwirksam sein. Der Umstand, dass der Arbeitgeber den Abschluss des Aufhebungsvertrags von der sofortigen Annahme seines Angebots abhängig macht und andernfalls mit einer fristlosen Kündigung droht, begründet für sich genommen jedoch keinen solchen Verstoß. Das hat das Bundesarbeitsgericht entschieden.

Eine Arbeitnehmerin hatte unberechtigt Einkaufspreise in der EDV ihres Arbeitgebers reduziert, um so einen höheren Verkaufsgewinn vorzuspiegeln. Der Geschäftsführer des Unternehmens stellte sie daraufhin zur Rede und legte ihr einen Aufhebungsvertrag zur sofortigen Annahme vor. Zugleich drohte er der Arbeitnehmerin mit einer fristlosen Kündigung und einer Strafanzeige. Ihrer Bitte, eine längere Bedenkzeit zu erhalten und Rechtsrat einholen zu können, wurde nicht entsprochen. Die Mitarbeiterin unterzeichnete den Vertrag, klagte jedoch im Nachhinein vor dem Arbeitsgericht auf den Fortbestand ihres Arbeitsverhältnisses. Der Arbeitgeber habe mit seinem Vorgehen gegen das Gebot fairen Verhandelns verstoßen. Das Arbeitsgericht gab der Klage statt, das Landesarbeitsgericht wies sie auf die Berufung des Arbeitgebers hin ab.

Nun hat auch das Bundesarbeitsgericht (BAG) im Sinne des Arbeitgebers entschieden (Urteil vom 24. Februar 2022, Aktenzeichen: 6 AZR 333/21). Zwar könne ein Aufhebungsvertrag unter Verstoß gegen das Gebot fairen Verhandelns zustande kommen und dadurch unwirksam sein. Der Umstand, dass der Arbeitgeber den Abschluss des Aufhebungsvertrags von der sofortigen Annahme seines Angebots abhängig macht, begründe für sich genommen jedoch keinen solchen Verstoß.

Das gilt laut BAG auch dann, wenn der Arbeitnehmerin dadurch weder eine Bedenkzeit verbleibt noch der erbetene Rechtsrat eingeholt werden kann. Vielmehr komme es auf Gesamtumstände der konkreten Verhandlungssituation an: Ein verständiger Arbeitgeber durfte laut BAG im vorliegenden Fall sowohl die Erklärung einer außerordentlichen Kündigung als auch die Erstattung einer Strafanzeige ernsthaft in Erwägung ziehen. Der Arbeitgeber habe nicht gegen das Gebot fairen Verhandelns verstoßen und der Aufhebungsvertrag sei somit wirksam.

VAA-Praxistipp:
Das BAG hat mit seinem Urteil klargestellt: Das von ihm entwickelte Gebot des fairen Verhandelns ist restriktiv auszulegen und der Grundsatz der Vertragstreue steht im Vordergrund. VAA-Mitglieder sollten in jedem Fall – unabhängig von den jeweiligen Umständen – vor der Unterzeichnung eines Aufhebungsvertrages die Unterstützung durch die VAA-Juristen in Anspruch nehmen.