Interview mit Thomas Spilke

Schutz für Betriebsratsmitglieder

Bei den Betriebsratswahlen 2022 sind über 100 VAA-Mitglieder zum ersten Mal in den Betriebsrat eingezogen. Die Mitarbeit in diesem Gremium ist mitunter gerade gegenüber den Vertretern des Arbeitgebers konfliktträchtig. Mitglieder des Betriebsrates werden deswegen vom Gesetzgeber besonders geschützt. Bei so vielen „Neuen“ im Betriebsrat ist gerade jetzt der ideale Zeitpunkt für das VAA Magazin, mit dem VAA-Juristen und „Betriebsratsexperten“ Thomas Spilke auf die Schutzmechanismen des Betriebsverfassungsgesetzes zu schauen.

VAA Magazin: Müssen sich Betriebsratsmitglieder Sorgen um Ihre Zukunft machen, wenn sie sich für die Interessen der von ihnen vertretenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einsetzen?

Spilke: Nein, absolut nicht. Das Betriebsverfassungsgesetz schützt Betriebsratsmitglieder in allen wichtigen Punkten äußerst effektiv. Das fängt beim besonderen Kündigungsschutz an und reicht bis zur wirtschaftlichen und finanziellen Absicherung während der Ausübung des Amtes und ein Jahr danach. 

Vom besonderen Kündigungsschutz der Betriebsräte hat sicher jeder schon einmal gehört. Wie funktioniert dieser genau?

Während der Amtszeit sind Betriebsratsmitglieder vor jeder ordentlichen Kündigung absolut geschützt. Mit anderen Worten ist jede fristgemäße Kündigung, egal ob betriebsbedingt, personenbedingt oder verhaltensbedingt, von vornherein unwirksam. Gekündigt werden kann ein Betriebsratsmitglied nur außerordentlich fristlos. Mit anderen Worten: nur wenn ein Sachverhalt vorliegt, der so schwerwiegend ist, dass es dem Arbeitgeber unzumutbar ist, das Arbeitsverhältnis auch nur noch einen Tag aufrechtzuerhalten. Das ist in der Regel nur bei Straftaten gegeben – und selbst dann muss der Betriebsrat als Gremium der Kündigung vorher zugestimmt haben.

Gilt dieser Schutz auch für Ersatzmitglieder des Betriebsrates?

Ja. Wenn der Vertretungsfall eintritt, die Ersatzmitglieder also temporär zum Beispiel wegen Urlaubs oder Krankheit der regulären Betriebsratsmitglieder das Amt des Betriebsrates ausüben, sind sie genauso geschützt wie das reguläre Betriebsratsmitglied. Hier ist dann aber der sogenannte nachwirkende Kündigungsschutz noch wichtiger. Der Ausspruch einer Kündigung durch den Arbeitgeber ist dann auch ein Jahr nach Beendigung des Vertretungsfalles, der Amtszeit des Betriebsrates, nicht wirksam möglich. Dieser nachwirkende Schutz gilt dann natürlich auch wieder nach jedem weiteren Vertretungsfall, das Jahr beginnt immer wieder aufs Neue. Für die regulären Betriebsratsmitglieder gilt dies nach Ablauf der Amtszeit von vier Jahren ebenfalls – es sei denn, man wird wiedergewählt! 
 
Wird die Tätigkeit als Betriebsrat besonders vergütet?

Nein. Das Betriebsratsamt wird nach der Konzeption des Gesetzgebers ehrenamtlich ausgeübt.

Und was ist dann mit dem Gehalt? Wird das anteilig für die Betriebsratstätigkeit gekürzt, in der nicht gearbeitet wird?
  
Das geschieht nicht. Dann würde sich ja niemand auf dieses Abenteuer einlassen! Ein Betriebsratsmitglied hat Anspruch auf Freistellung von der Arbeit für jede erforderliche Tätigkeit als Betriebsrat. Das gilt nicht nur für die Betriebsratssitzungen oder die Ausschussarbeit, sondern für jede erdenkliche Tätigkeit als Betriebsrat, zum Beispiel bei Hinzuziehung des Betriebsratsmitgliedes durch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer des Betriebes für Personalgespräche oder ähnliches. Für die versäumte Zeit muss der Arbeitgeber den Betriebsrat entschädigen, sodass dieser das Gehalt bekommt, als wenn er ganz normal gearbeitet hätte. Das gilt übrigens auch für den Bonus und sonstige Leistungen, die ebenfalls so gewährt werden müssen, als hätte die Betriebsratsarbeit nicht stattgefunden.

Das ist doch sicher im Einzelfall schwierig zu bemessen.

Oh ja. Das ist eines der schwierigsten und umstrittensten Themen im Zusammenhang mit Betriebsräten überhaupt. Ein Betriebsratsmitglied darf gerade beim Entgelt, aber auch sonst, weder benachteiligt noch bevorteilt werden. Beides wären unter Umständen Straftaten. Deswegen müssen Arbeitgeber in jedem Einzelfall prüfen, welche Regelung angemessen ist.
 
Muss der Arbeitgeber also im Einzelfall prüfen, wie die Zielerreichung für den Bonus gewesen wäre, wenn das Betriebsratsmitglied nicht Betriebsratsmitglied gewesen wäre?
 
Genau das fordert das Bundesarbeitsgericht von den Arbeitgebern. In der Praxis wird allerdings häufig auf pauschale Regelungen zurückgegriffen. Wenn beide Seiten damit einverstanden sind, weil nur das praktikabel ist, dann ist das auch okay.

Gilt das auch für Gehaltserhöhungen?

Das gilt für alles. Betriebsratsmitglieder müssen die Gehaltserhöhung bekommen, welche die Mehrheit der mit ihnen vergleichbaren Arbeitnehmer bekommen haben. Man muss im Prinzip zu Beginn der Betriebsratstätigkeit eine Vergleichsgruppe bilden und dann immer überprüfen, was die Erhöhung in dieser Gruppe war. 

Im Übrigen gilt das auch für die Karriereentwicklung: Ist die Mehrzahl der Mitglieder der Vergleichsgruppe befördert worden, muss auch das Betriebsratsmitglied befördert werden. Die finanzielle Absicherung gilt bis ein Jahr nach Beendigung der Amtszeit des Betriebsrats.

Gibt es denn in der VAA-Rechtsberatung in diesem Bereich Fälle?

In der ganz überwiegenden Zahl nicht. Aber insbesondere bei vollkommen von der Arbeit freigestellten Betriebsräte gibt es immer wieder im Einzelfall Probleme bei den Gehaltserhöhungen oder der Bonusbemessung. Hier können wir aber einschreiten und in der Regel auch zu vernünftigen Lösungen mit den Arbeitgebern kommen.

Sie haben vorhin von „erforderlicher“ Betriebsratsarbeit gesprochen. Wer entscheidet denn, welche Tätigkeit als Betriebsrat erforderlich ist und was nicht?

Das Betriebsratsmitglied selbst! Das Bundesarbeitsgericht geht davon aus, dass alle Betriebsratsmitglieder vernünftige Menschen sind, die selbst wissen, was zu tun ist und was vielleicht zu viel ist. Der Arbeitgeber kann nur im extremen Einzelfall überprüfen lassen, ob bestimmte Betriebsratstätigkeiten wirklich erforderlich gewesen sind. Die Aufgabenpalette eines Betriebsrates ist aber vom Gesetzgeber sehr weit angelegt worden. Ein Betriebsratsmitglied ist gemäß § 80 BetrVG theoretisch nahezu für alles im Betrieb zuständig. Da kann es gut sein, dass mehr als die üblichen 20 bis 30 Prozent der normalen Arbeitszeit Betriebsratstätigkeit geleistet wird.

Kann denn ein Betriebsratsmitglied, gerade wenn es neu in den Betriebsrat kommt, diese ganzen Regeln beherrschen?

Dazu gibt es ganz wunderbare Schulungen für Betriebsratsmitglieder. Der Arbeitgeber muss Betriebsräte für Schulungen freistellen und diese auch bezahlen. Es ist jedem neuen Betriebsratsmitglied zu raten, mindestens die Grundschulungen für Betriebsräte zu absolvieren. Diese umfassen Grundkenntnisse im Betriebsverfassungsgesetz, aber auch in der Folge im Arbeitsrecht. Ohne diese Schulungen ist das Amt nicht ordnungsgemäß auszuüben. Der VAA bietet solche Schulungen über das Führungskräfte Institut (FKI) an und hat auch in den Monaten seit den Betriebsratswahlen schon sehr viele neue Betriebsrats- und Ersatzmitglieder des Betriebsrats mit dem notwendigen Rüstzeug versehen. 

Außerdem gibt es in den meisten Gremien ja auch erfahrene Betriebsräte, die helfen können. Und zu guter Letzt ist steht natürlich noch der VAA mit Rat und Tat zur Seite. Nur keine Angst!

Auf der Mitgliederplattform MeinVAA unter mein.vaa.de stehen für eingeloggte VAA-Mitglieder zahlreiche Infobroschüren zu arbeitsrechtlichen Themen zum Download bereit.

Urteil

BAG: keine Beweislastumkehr bei Überstunden nach EuGH-Urteil

In einem Urteil aus dem Jahr 2019 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) die EU-Mitgliedstaaten zu einer objektiven Arbeitszeitdokumentation durch die Arbeitgeber verpflichtet. Die Entscheidung führt nicht zu einer Beweislastumkehr beim Nachweis von Überstunden durch Arbeitnehmer in Deutschland, hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) festgestellt.

Ein als Auslieferungsfahrer beschäftigter Arbeitnehmer hat seine Arbeitszeit mithilfe technischer Zeitaufzeichnung erfasst, wobei nur Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit, nicht jedoch die Pausenzeiten aufgezeichnet wurden. Zum Ende des Arbeitsverhältnisses ergab die Auswertung der Zeitaufzeichnungen einen positiven Saldo von 348 Stunden zugunsten des Arbeitnehmers. Er klagte vor dem Arbeitsgericht auf eine entsprechende Überstundenvergütung und machte geltend, er habe die gesamte aufgezeichnete Zeit gearbeitet. Pausen zu nehmen, sei nicht möglich gewesen, weil sonst die Auslieferungsaufträge nicht hätten abgearbeitet werden können. Der Arbeitgeber hatte dies bestritten. 

Das Arbeitsgericht Emden gab der Klage des Arbeitnehmers statt. Es bezog sich auf das EuGH-Urteil vom 14. Mai 2019 (Aktenzeichen: C-55/18), wonach die Mitgliedstaaten die Arbeitgeber verpflichten müssen, ein objektives, verlässliches und zugängliches Arbeitszeiterfassungssystem einzuführen. Dadurch werde die Darlegungslast im Überstundenvergütungsprozess modifiziert. Die positive Kenntnis von Überstunden als Voraussetzung für deren arbeitgeberseitige Veranlassung sei jedenfalls dann nicht erforderlich, wenn der Arbeitgeber sich die Kenntnis durch Einführung, Überwachung und Kontrolle der Arbeitszeiterfassung hätte verschaffen können. Ausreichend für eine schlüssige Begründung der Klage sei, die Zahl der geleisteten Überstunden vorzutragen. Da der Arbeitgeber die Inanspruchnahme von Pausenzeiten durch den Arbeitnehmer nicht hinreichend konkret dargelegt habe, sei die Klage begründet. Das Landesarbeitsgericht (LAG) wies die Klage hingegen ab, wogegen sich der Arbeitnehmer vor dem BAG wandte.

Auch das BAG entschied nun jedoch im Sinne des Arbeitgebers (Urteil vom 4. Mai 2022, Aktenzeichen: 5 AZR 359/21). Das LAG habe richtig erkannt, dass vom Erfordernis der Darlegung der arbeitgeberseitigen Veranlassung und Zurechnung von Überstunden durch den Arbeitnehmer auch nicht vor dem Hintergrund der genannten Entscheidung des EuGHs abzurücken ist. 

Die entsprechende Arbeitszeitrichtlinie diene der Regelung der Arbeitszeit zur Gewährleistung der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer, finde aber grundsätzlich keine Anwendung auf die Vergütung. Der Arbeitnehmer hätte also wie bislang „hinreichend konkret“ darlegen müssen, dass es erforderlich war, ohne Pausenzeiten durchzuarbeiten, um die Auslieferungsfahrten zu erledigen. Die bloße pauschale Behauptung ohne nähere Beschreibung des Umfangs der Arbeiten genügte dafür nicht.

VAA-Praxistipp: Mit seinem Urteil im Jahr 2019 hat der EuGH den EU-Mitgliedstaaten den Auftrag erteilt, die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung durch entsprechende Gesetzgebung umzusetzen. Arbeitgeber in Deutschland sind somit erst zur Arbeitszeitdokumentation verpflichtet, wenn das EuGH-Urteil hier in Gesetzgebung umgesetzt wurde, was derzeit noch nicht der Fall ist. Das BAG hat in seinem Urteil nun klargestellt, dass bis dahin auch keine mittelbare Wirkung durch eine Neuinterpretation der bestehenden Gesetzeslage entsteht.