Vertikale Landwirtschaft
Ackerbau im Großstadtdschungel
Von Timur Slapke und Simone Leuschner
Zurzeit befindet sich Europa in der wohl schwersten Krise der Nachkriegszeit. Auch weltweit scheint die bereits durch die Pandemie angeschlagene Wirtschaft aus dem Ruder zu laufen. Grund dafür ist nicht zuletzt der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Der Krieg zeigt außerdem auf, wie fragil die Nahrungsmittelversorgung ist. So hat sich das Hungerrisiko für Millionen von Menschen verschärft – vor allem in den schon jetzt am stärksten von Armut betroffenen Regionen der Erde. Langfristig bedroht werden Ackerbau sowie Pflanzen- und Tierzucht zusätzlich vom Klimawandel. Was tun, wenn Böden dauerhaft unfruchtbar werden oder – wie in der Ukraine – wegen großflächiger Verminung nicht mehr nutzbar sind? Einen möglichen Weg, um unabhängig von der Natur saubere Landwirtschaft zu betreiben, bietet das sogenannte Vertical Farming. Ziel ist es, mit weniger Platz und Ressourcen mehr zur produzieren. Durch diese Entkoppelung ergeben sich neue Chancen, aber auch viel Forschungsbedarf.
Wer im Herbst durch die Straßen von Dortmund spaziert, denkt nicht unbedingt an Ackerbau oder Gewächshäuser. Es gibt durchaus grünere Landstriche als die westfälische Ruhrmetropole. Und doch stand hier Ende September 2022 die Zukunft der Landwirtschaft im Mittelpunkt: Auf der Messe „VertiFarm“ in den Westfalenhallen konnten Forschungseinrichtungen und Unternehmen zeigen, wie sich mithilfe innovativer Anbau-, Bewässerungs- und Beleuchtungsmethoden auch in unwirtlichen Umgebungen Verzehrpflanzen kultivieren lassen. Von Modellsystemen zur regenerativen Wasserversorgung über die Insektenkultivierung für die Lebensmittelproduktion bis hin zu speziell ausgeleuchteten, mehrlagigen Pflanzeninkubatoren wurde ein breit gefächertes Spektrum an urbanen Agrartechnologien dargeboten.
Diese Technologien sind der Schlüssel zu einer robusteren und resilienteren Nahrungsmittelversorgung. „Wir können die Weltbevölkerung nicht allein durch natürlichen Bioanbau auf dem Land ernähren“, erklärt die Vorsitzende des gemeinnützigen Vereins Association of Vertical Farming (AVF) Christine Zimmermann-Loessl. „Da müssen wir pragmatisch denken und neue Technologien fördern. Wir brauchen verschiedene Systeme, die einander ergänzen.“ Dazu gehört die vertikale Landwirtschaft. „Wir bieten den Pflanzen durch unsere Systeme genau das, was sie brauchen. Es ist zum einen ein Wohlfühlprogramm, zum anderen aber auch wohldosierter Stress, um das zu produzieren, was man haben möchte.“ Für die studierte Politikwissenschaftlerin und Philosophin hat Vertical Farming weitere Vorteile: „Wir können damit auch 20 Lagen nach oben bauen und auf engstem Raum höchste Erträge erzielen, und zwar unabhängig vom Wetter, vom Klima und von der Bodenqualität.“
Vom kleinen Start-up bis zum multinationalen Konzern ist im AVF die gesamte Kette vom Saatgut über das fertige Produkt bis zum Vertrieb abgebildet. „Da sind Technologieanbieter zurzeit dominant, aber auch Lebensmittelhersteller wie Hipp, die interessiert an den Produkten sind“, erläutert die AVF-Vorsitzende. „Spinat ist ein gutes Beispiel: Da fehlen langsam die Kapazitäten, ihn in der Menge und Qualität anzubauen, wie er etwa für die Babynahrung gebraucht wird.“ Mithilfe von Vertical Farming könne man zudem den Nährstoff- und Vitamingehalt in Pflanzen gezielt beeinflussen. Künftig wolle man auch Arzneimittelpflanzen auf diese Weise produzieren.
Lokaler Anbau, globaler Fokus
Seit vielen Jahren engagiert sich Christine Zimmermann-Loessl dafür, die Landwirtschaft weltweit nachhaltiger und produktiver zu gestalten. Und der Fokus auf die globale Perspektive könnte aktueller nicht sein: In seinem „Special Report“ zur Anpassung an den Klimawandel hat das britische Magazin The Economist Anfang November 2022 darauf hingewiesen, dass ein Großteil der Agrartechnologien und der landwirtschaftlichen Ausrüstung, die Farmern in den Industrieländern zur Verfügung stehen, für Bauern in armen Ländern immer noch außer Reichweite sind. Viele Landwirte hätten weder Ersparnisse, um Missernten zu überstehen, noch finanzielle Mittel für Investitionen. Bewässerungssysteme seien rar: Fast 94 Prozent des Farmlandes in Afrika werde entweder nur durch Regen oder gar nicht bewässert. Hinzu kommt die globale Erwärmung: Weltweit sind die landwirtschaftlichen Produktivitätssteigerungen in den Jahren 1961 bis 2019 zehn bis 40 Prozent geringer ausgefallen, als es ohne die auf den Klimawandel zurückzuführenden klimatischen Veränderungen möglich gewesen wäre, hat eine ökonometrische Studie der Stanford University aus dem Jahr 2021 herausgefunden.
Lange bevor die Klimaproblematik in den öffentlichen Diskurs gerückt ist, wurde das Vertical-Farming-Prinzip entwickelt. Bereits in den 1960er Jahren hat die US-Weltraumbehörde NASA mit Untersuchungen begonnen, wie man auf dem Mond oder im All Landwirtschaft betreiben kann. Als Pate des modernen Vertical Farmings gilt der Mikrobiologe und Ökologe Dickson Despommier. „Er hat ungefähr im Jahr 2010 an der Columbia University einen Workshop zum Nahrungsanbau in der Stadt durchgeführt“, erinnert sich die AVF-Vorsitzende Zimmermann-Loessl. Daraus sei das Buch „The Vertical Farm: Feeding the World in the 21st Century“ entstanden. „Das hat den Boom des Themas neu entfacht.“ 2021 ist im Picador-Verlag eine aktualisierte Jubiläumsauflage erschienen.
„Vertical Farming hat auf vielen verschiedenen Ebenen Zukunftspotenzial“, findet auch Dr. Hannelore Daniel. „Auf globaler Ebene ermöglicht es den Anbau pflanzlicher Lebensmittel in Zonen, die bisher nicht für Landwirtschaft zugänglich waren.“ Man könne beispielsweise mitten in der Wüste eine vertikale Farm aufbauen. „Das Wasser, das zur Versorgung der Pflanzen eingebracht werden muss, kann dabei bis zu 99 Prozent zurückgeholt werden. Und Sonne für die Energiegewinnung zum Betrieb der Anlagen steht dort auch ausreichend zur Verfügung.“ Daniel war Professorin an der TU München und hat rund 40 Jahre an den Grundlagen von Nährstofftransportvorgängen im Säugetier auf genetischer, struktureller und funktioneller Ebene sowie den molekularen Grundlagen der Anpassung von Stoffwechselprozessen an Veränderungen in der Zufuhr von Nährstoffen und Alterungsprozessen geforscht.
Heimische Schoten fürs Aroma
Seit sechs Jahren engagiert sich die studierte Ernährungswissenschaftlerin und habilitierte Biochemikerin im Rahmen des öffentlich geförderten Projektes „NewFoodSystems“ auch an der Entwicklung von Vertical-Farming-Methoden. Das Projekt suche unter anderem bei Aromastoffen nach neuen Optionen, berichtet Hannelore Daniel. „Beispielsweise gehen die Hochschule Osnabrück und der Aromastoffhersteller Symrise der Frage nach, ob es möglich ist, Vanille in einem Vertical-Farming-System anzubauen und zur Blüte zu bringen.“ Denn erst danach bilde Vanille die Schoten, die man durch Fermentation als Vanilleschote im Supermarkt findet.
Bisher werden die teuren Vanilleschoten in Madagaskar angebaut. „Abhängig von den Klimabedingungen variiert die Qualität der Rohware vom Feld zum Teil markant“, so Daniel. Kann man in den Indoor-Farming-Systemen die Qualität bekommen, dass Hersteller wie Symrise die Verarbeitungsverfahren zur Gewinnung der natürlichen Aromen oder Extrakte nicht mehr anpassen müssen? „Ich bin da zuversichtlich, dass wir das hinbekommen. Es besteht durchaus Interesse von Lebensmittelproduzenten, in die Vertical Farm zu gehen, weil man dort unter kontrollierten Bedingungen Produkte in konstanter Qualität gewinnen kann und sogar Inhaltsstoffe im Gehalt erhöhen kann.“
Man verstehe übrigens nach wie vor nicht in Gänze, wie genau und warum die Vanillepflanze ihre Blüten treibt, hebt Hannelore Daniel hervor. Das sei bislang beim konventionellen Anbau nicht nötig gewesen. „Gemäß dem Nagoya-Protokoll verwenden wir in unserem Projekt nur Vanillepflanzen, die bereits vor langer Zeit nach Deutschland gelangt sind.“ Die Frage ist: Will man den Bauern in Madagaskar die Existenzgrundlage nehmen, wenn es wirklich gelänge, Vanille im großen Maßstab auch in Deutschland anzubauen? „Das wäre sicher nicht sehr klug“, antwortet das Leopoldina-Mitglied. „Symrise tut in Madagaskar sehr viel, um resilientere und diversifiziertere Produktionssysteme für die Bauern zu bieten. Es wird dort auch viel investiert.“ Vertical Farming könne aber als Ergänzung dienen. „Da wollen wir auch eine ganzheitliche und belastbare Bewertung der Nachhaltigkeit dieser Technologie etablieren.“
Anders als bei Vanille eignet sich heimisches „Grünzeug“ bereits heute sehr gut für vertikale Farmen. Auch da ist der Vorteil die gezielt steuerbare Nährstoffregulierung, aber auch die Reduktion von Giftstoffen. So bildet zum Beispiel Borretsch abhängig von den Kulturbedingungen ein Bündel an sogenannten Pyrrolizidinalkaloiden. Hannelore Daniel erläutert: „Das sind toxische Verbindungen, die man definitiv nicht im Produkt haben will und für die es neuerdings auch Grenzwerte gibt. In NewFoodSystems untersuchen wir, ob man durch gezielte Lichtsteuerungsprogramme in Indoor-Farmen den Gehalt an diesen Inhaltsstoffen reduzieren kann.“ Ähnliches gelte auch für andere Kräuter.
In der Keimphase brauchen die Pflanzen in Europas größter vertikaler Farm Nordic Harvest in Dänemark mehr rotes Licht, weil sie sich dabei mehr strecken. Gegen Ende ihres Wachstums benötigen sie dagegen mehr blaues Licht, so Nordic-Harvest-CEO Anders Riemann. Denn das blaue Licht helfe dabei, dass sich einige mikroskopisch kleine Schlitzöffnungen öffnen – sogenannte Stomata. „Und das bedeutet, dass die Pflanzen schneller mehr Photosynthese betreiben können.“
Theoretisch könnten Gartenkräuter, Salate und Grüngemüse schon heute direkt auf Dächern von Supermärkten oder in Hochhausetagen angebaut werden. Genau damit beschäftigt sich Dr. Felix Thoma vom Fraunhofer-Institut für Umwelt-, Sicherheits- und Energietechnik UMSICHT im Rahmen des Projektes „inFARMING®“. Bei diesem vor etwa zehn Jahren entwickelten Konzept geht es unter anderem darum, Nährstoff- und Ressourcenkreisläufe zu schließen und eine gebäudeintegrierte Landwirtschaft zu etablieren. „Das Dachgewächshaus wird nicht nur aufs Gebäude gesetzt, sondern mit dem Gebäude verschaltet.“
Installiert wurde die urbane Modellfarm auf dem Jobcenter in Oberhausen. „Es wird beispielsweise die Abwärme von Büroräumen oder Betrieben, die sich im Gebäude befinden, etwa eine Bäckerei, nach oben gespeist“, erzählt Thoma. „Auch das Kohlendioxid wird nach oben geleitet und für die Pflanzenkultivierung verwendet. Gleiches passiert mit Grau- und Brauchwasser, das zur Bewässerung genutzt wird.“ Die produzierten Lebensmittel werden dann auf dem Wochenmarkt oder an die naheliegende Gastronomie verkauft.
Aus der Kläranlage auf den Küchentisch
Neben dem Indoor Farming forscht Thoma an der Interaktion zwischen Licht und Pflanzen und analysiert die Daten. In einem weiteren Projekt namens SUSKULT will der Ingenieur gemeinsam mit seinem Team die Pflanzenkultivierung dahin bringen, wo Nährstoffe ausreichend zur Verfügung stehen – an Abwasseraufbereitungsanlagen. „An die Kläranlage kommt also eine Indoor-Farming-Anlage. Aus dem Abwasser werden die Nährstoffe, die Pflanzen benötigen, zum Beispiel Stickstoff, Phosphor oder Kalium, zurückgewonnen.“ Schadstoffe und Medikamentenrückstände werden natürlich herausgefiltert, damit sie nicht in die Pflanzen gelangen. Daraus entsteht ein Flüssigdünger für die Pflanzen. „Anfang September 2022 haben wir eine Pilotanlage am Klärwerk Emschermündung in Dinslaken eingeweiht.“
Im SUSKULT-Projekt sind insgesamt 15 Partner dabei, darunter einige Hochschulen wie die Hochschule Osnabrück und die Universität Gießen. „Auch Handelsunternehmen wie Rewe und Metro sind an Bord“, ergänzt Felix Thoma. Ein wichtiger Teilaspekt ist dort die gesellschaftliche Akzeptanz: „Salat aus der Kläranlage wird zunächst nicht von allen positiv wahrgenommen.“ Wobei die Qualität des Salates tendenziell höher sei als bei konventioneller Anzucht. „Zudem zeigen unsere Untersuchungen, dass beispielsweise Schwermetalle in der Düngerlösung weit unter einem kritischen Niveau liegen.“
Ob oben auf dem Dach oder neben der Kläranlage: Die Vorzüge des Urban Farmings liegen für Fraunhofer-Forscher Thoma auf der Hand: „Es kann mehrjährig und klimaunabhängig geerntet werden, man ist nah am Verbraucher und bereits versiegelte Flächen können genutzt werden, indem man Dächer bebaut.“ Zudem werden Transportkosten und Emissionen gespart – und die Lebensmittel sind frei von Pflanzenschutzmitteln. Doch die Energiefrage stelle nach wie vor eine Herausforderung dar: „Man braucht Strom fürs Licht und die Klimatisierung. Das sollte optimiert werden, einerseits durch wissenschaftliche und technologische Fortschritte und andererseits durch erneuerbare Energien.“
Begrenzt ist im Indoor-Farming-Bereich zurzeit auch das „Sortiment“, weil man sich zurzeit vorwiegend auf Blattgemüse wie Salate und Kräuter konzentriere. Felix Thoma weiß: „Davon kann man die Weltbevölkerung natürlich nicht ernähren.“ Aktuell werde deshalb beispielsweise an der Kultivierung von Weizen und Kartoffeln geforscht, die als kalorienreiche Primärnahrungsmittel eine Schlüsselrolle spielen. Der Ernährungswissenschaftlerin Hannelore Daniel zufolge sei es mittlerweile sogar gelungen, bestimmte Reissorten in der Vertical Farm zu Erträgen zu bringen, die lohnenswert erscheinen. „Denn gerade Grundnahrungsmittel wie Reis sind essenziell für die Ernährung der Menschheit“, hebt Daniel hervor.
Regulierung als Innovationshemmnis
Was fehlt der Technologie noch auf dem Weg in die Breite? Aus Sicht des Vertical-Farming-Interessenverbandes AVF, der auch die Dortmunder VertiFarm-Messe organisiert, behindern die Planungsregeln in vielen Ländern eine schnellere Entwicklung. „Sogenannte Zoning Laws in den USA oder die meist strikte Trennung von Industrie-, Agrar- und Wohngebieten bei uns sind große Hürden für die großflächige Etablierung vertikaler Farmen“, findet die AVF-Vorsitzende Christine Zimmermann-Loessl. In der Tat ist diese Anbaumethode nicht einfach einzuordnen. „Es hat von allem ein bisschen.“ Ähnlich sieht es Hannelore Daniel, die über eine Dekade Mitglied des Bioökonomierates der Bundesregierung war: „Europa hat mit seiner sehr strikten und enorm komplexen Zulassungs- und Lebensmittelsicherheitspolitik eine enorme Hürde für Innovationen aufgebaut. In Europa kommen Lebensmittelinnovationen wirklich nur sehr langsam auf den Markt.“
Geht es nach Wissenschaftlern und Experten wie Hannelore Daniel, sollte sich die Öffentlichkeit gerade in Deutschland die Chancen vor Augen führen. „Vertical Farming ist keine künstliche Lebensmittelerzeugung, sondern pure Biologie.“ Das sei Landwirtschaft, die rund um die Uhr und das ganze Jahr über betrieben werden könne – mit höchster Qualität der Produkte und gegebenenfalls auch nachhaltiger denn zuvor. „Wir leben nicht auf der Insel der Seligen, die durch Bauernhöfe wie aus der Zeit der Großväter und Großmütter versorgt wird. Diese Bilder, die idealisiert transportiert werden, passen überhaupt nicht zur Realität der Lebensmittelproduktion, aber auch nicht zu den Anforderungen an die Versorgung der Weltbevölkerung.“
In der Krise realisieren Menschen oft erst richtig, wie sie mit Messer und Gabel direkt am Weltgeschehen teilhaben – und es beeinflussen. „Essen bewegt die Menschen“, betont Hannelore Daniel. Ihr ist seit Langem klar: Landwirtschaft ist heutzutage mehr denn je Hightech und Technologie. Von den Innovationen, die auf der VertiFarm-Messe vorgestellt wurden, ist sie überzeugt: „Vertical Farming wird sicherlich nicht die Universaltechnologie der Zukunft sein, aber sie wird definitiv ihren Platz finden.“
Teststation für Vertical Farming – Interview mit Sascha Rose
Sascha Rose ist Wirtschaftsingenieur aus Ulm. Gemeinsam mit seinem Bruder Philip hat Rose das Unternehmen ROKO Farming gegründet, das sich mit der ökonomisch und ökologisch effizienten Produktentwicklung mit technischem Fokus auf den Lebensmittelproduktionsprozess beim Vertical Farming beschäftigt.
VAA Magazin: Auf der Messe VertiFarm im September 2022 in Dortmund haben Sie die sogenannte xFactory vorgestellt. Was bedeutet der Begriff?
Rose: „xFactory“ ist als Neologismus aus der Notwendigkeit heraus entstanden, Experimente wie am Fließband einer Fabrik durchzuführen. Im Grunde spiegelt der Name und das Produkt unsere Sicht auf das Thema Vertical Farming wider. Unser Cube „xFactory“ ist also eine Art Teststation, in der für einzelne Anbausorten innerhalb des Vertical Farmings zum Beispiel das richtige Licht, eine angemessene Luftfeuchtigkeit oder eine ausreichende Form von Bewässerung getestet werden kann, bevor der Farmer oder Anbauer seine gesammelte Erfahrung in das tatsächliche Objekt, seine Halle oder sein Gewächshaus skalierbar integrieren kann. Forschende können mit der xFactory aber auch verschiedene Nährlösungen zur Kultivierung von Mikroorganismen testen, die später das Wachstum einer Pflanze fördern.
Es gab in der Vergangenheit schon viele Versuche mit Salat, Basilikum oder Kräutern, aber noch bedeutend zu wenige oder gar keine Experimente mit Grundnahrungsmitteln wie Kartoffeln, Weizen, Reis, Rote Beete, Erbsen, Hopfen und Zuckerrüben. Diese Liste lässt sich beliebig fortführen. Das Potenzial des Vertical Farmings ist jedoch bedeutend größer als Kräuter und Basilikum. Aus unserer Sicht kann dies erst ausgeschöpft werden, wenn Grundnahrungsmittel in Kombination mit erneuerbaren Energiequellen klimaresilient angebaut werden. Um dorthin zu kommen, bedarf es noch vieler Experimente – ganzer Experimentfabriken, xFactories also.
Wie beeinflusst Licht das Wachstum einer Pflanze?
Licht hat einen entscheidenden Einfluss auf das Wachstum einer Pflanze. So bestimmen Lichtmenge, Fotoperiode, also die Dauer, und die spektrale Zusammensetzung des Lichts, wie eine Pflanze wächst oder welche Inhaltsstoffe sie bildet. Ein Beispiel: Wird Spinat mit erhöhtem Anteil roten Lichts bestrahlt, kann sich der Vitamin-C-Gehalt erhöhen. Es gibt jedoch unzählige Pflanzen und gleichzeitig unzählige Einstellmöglichkeiten. Einschlägige Literatur aus dem Bereich des klassischen Gartenbaus sind bereits vorhanden. Jedoch gibt es auch hier zu wenig Wissen über die „klassischen“ Ackerpflanzen. Es wurde aber bislang lediglich an der Oberfläche gekratzt. Hinzu kommt, dass neben dem Licht auch Bewässerungsmethode, Temperatur, Luftfeuchtigkeit, Nährstoffangebot im Wasser ebenfalls eine Rolle spielen.
In der allgemeinen Vorstellung wächst auf dem Feld eine Ackerpflanze mit dem, was der Boden an Nährstoffen hergibt – das entspräche dem Ökolandbau. Das Wasser kommt von oben und über die Jahreszeiten hinweg kann dann geerntet werden. Aber wenn in Zukunft der entscheidende Faktor Wasser entfällt, müssen Alternativen gefunden werden. Vertical Farming in Kombination mit erneuerbarer Energie ist eine solche Alternative. Aber um die oben genannten Bedingungen zu verstehen, anzuwenden und gegebenenfalls zu optimieren, ist es noch ein weiter Weg. Sie sehen: Nicht nur das Licht ist entscheidend, sondern auch die anderen Faktoren müssen berücksichtig werden. Ein allgemein gültiges Rezept gibt es da noch nicht.
Welche Chance sehen Sie im Vertical Farming und welche Unterstützung wünschen Sie sich?
Wir sehen im Vertical Farming nicht weniger als eine zusätzliche Alternative für Landwirte, ihre Ernten zu sichern. Der Blick auf den vergangenen Sommer lässt erahnen, was in Zukunft auf uns zukommt. Aus diesem Grund arbeiten wir mit Hochdruck daran, dass unter anderem mit der xFactory ein grundlegendes Verständnis für den Anbau von Grundnahrungsmitteln mithilfe von Vertical Farming erlangt wird. Dabei ist es fundamental, eingerostete Denkmuster zu überwinden. Schnellstmöglich müssen die gewonnenen Erkenntnisse zusammengetragen und vor allem geteilt werden.
Es heißt immer, Daten seien das Gold des 21. Jahrhunderts. Nur darf es in dieser Angelegenheit keinen Goldrausch geben. Es benötigt eine Plattform, um Ergebnisse effizient und im Sinne der Allgemeinheit zu teilen und auszutauschen. Auch daran arbeiten wir bereits und sind mit verschiedenen Organisationen im Gespräch über den Aufbau einer solchen Plattform. Vielleicht gibt es bald die erste Liga für die Optimierung der VF-Anbaubedingungen für Kartoffeln. Mit Meisterschaft und Transfersummen für Fachkräfte.
Bis es aber so weit ist, erhoffen wir uns sehr großes Engagement der Politik. Kleine Schritte: Forschungs- und Förderprogramme müssen aufgesetzt werden. Pilot- und Testanlagen im kleineren Maßstab müssen finanziert werden. Subventionsprogramme müssen angestoßen werden, damit Landwirte oder Interessierte das finanzielle Risiko nicht allein tragen. Die Zeit drängt. Sie merken: Es gibt sehr viel zu tun. Denn der nächste Rekordsommer kommt gewiss.
Zahlen und Fakten
14 Etagen
aufeinander gestapelte Regalsysteme in einer Halle bei Kopenhagen in Dänemark dienen jährlich 250 Tonnen Eisberg-, Rucola- und Romanasalat sowie Grünkohl als vertikale Kinderstube. Das Unternehmen Nordic Harvest wurde im Jahr 2020 von CEO Anders Riemann gegründet und gilt inzwischen als Europas größtes Vertical-Farming-Unternehmen. Riemann strebt an, die Produktion seiner Aufzucht im nächsten Jahr auf 1.000 Tonnen zu vervierfachen.
7.000 Quadratmeter
misst die Gewerbehalle von Nordic Harvest in Taastrup, in der die Pflanzen das ganze Jahr rund um die Uhr angebaut und gezüchtet werden können. Das Licht von LED-Leuchten mit einer genauen Farbtemperatur, die richtige Luftfeuchtigkeit und eine gezielte Menge an Kohlendioxid bestimmen das Wachstum der Keimlinge und verhelfen ihnen zur schnelleren Photosynthese: In dieser geschützten Umgebung wachsen die Pflanzen in nur zwei bis drei Wochen aus dem Samen zur fertigen Pflanze.
80 Liter
weniger Wasser nutzt Nordic Harvest durchschnittlichfür den Anbau der Salatsorten in seinen Hallen im Vergleich zum Anbau in einem klassischen Gewächshaus und sogar 250 Liter weniger als in der offenen Landwirtschaft. Laut CEO Anders Riemann wachsen die Pflanzen ohne Erde auf – ohne Kontakt zu Schädlingen und Pestiziden. Bei ihrer Ernte müssen sie nicht aufwendig gereinigt werden. Dies spart viel Wasser, das aus dem sieben Kilometer langen, in sich geschlossenen Wassersystem stammt.
Weniger als eine
Stunde vergeht bei Nordic Harvest von der Ernte der Pflanze bis zu ihrer gekühlten Verpackung für den Supermarkt. Dadurch, dass die Pflanzen nicht gewaschen werden müssen, weil sie in einer sauberen Umgebung aufwachsen, bleiben sie zwei- bis dreimal länger frisch. Die Verpackungen bestehen aus recyceltem Kunststoff und sind selbst zu 100 Prozent recycelbar.
100 Prozent
Wind – die gesamte Energie für die Produktion innerhalb der Vertical Farm des dänischen Herstellers Nordic Harvist wird CEO Anders Riemann zufolge aus zertifizierter Windenergie in Offshore-Windkraftanlagen gewonnen.