Interview mit Thomas Spilke

Arbeitszeiterfassung bleibt Dauerbrenner

Aufgrund verschiedener höchstrichterlicher Urteile ist die Pflicht der Arbeitgeber zur Erfassung der Arbeitszeit ihrer Beschäftigten in den letzten Jahren immer wieder Thema in den Medien gewesen. In den Betrieben ist aber trotzdem bisher an der jahrelangen Praxis festgehalten worden. Stößt das „Paukenschlag-Urteil“ des Bundesarbeitsgerichts (BAG) etwa auf taube Ohren? Wo muss gehandelt werden? Auf diese und andere Fragen hat dem VAA Magazin Thomas Spilke vom Juristischen Service des VAA geantwortet. Dabei geht der Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht auch auf die Rolle des Betriebsrats bei diesem Thema ein.

VAA Magazin: Warum soll die Arbeitszeit überhaupt erfasst werden?

Spilke: Gute Frage! Der Gesetzgeber hatte im Arbeitszeitgesetz nur vorgeschrieben, dass die Arbeitszeit vom Arbeitgeber nur erfasst werden muss, wenn die tägliche Arbeitszeit acht Stunden überschreitet. Und selbst dann haben sich die Behörden damit zufriedengegeben, wenn der Arbeitgeber „mehr als acht, aber weniger als zehn Stunden“ notiert hat, und eben nicht, ob genau acht Stunden 30 Minuten oder neun Stunden 15 Minuten gearbeitet wurden. Zweck des Gesetzes war aber schon immer „Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeitszeitgestaltung“.

Warum soll die bisherige Praxis nicht ausreichend sein?

Weil das Arbeitszeitgesetz zum Beispiel auch regelt, dass im Durchschnitt von sechs Kalendermonaten höchstens acht Stunden pro Werktag, also 48 Stunden gearbeitet werden dürfen. Oder dass zwischen zwei Arbeitsschichten auch elf Stunden Ruhezeit liegen müssen. Wie soll der Arbeitgeber wissen, dass diese Pflichten eingehalten werden, wenn er nicht die genauen Arbeitszeiten erfasst? Das hat das Bundesarbeitsgericht indirekt schon am 6. Mai 2003 erkannt und dem Informationsbegehren des Betriebsrats zu einzelnen Arbeitszeiten von Beschäftigten in Vertrauensarbeitszeit stattgegeben. Das BAG urteilte, dass sich der Arbeitgeber über die Arbeitszeiten in Kenntnis setzen muss. Er kann sich also gerade nicht darauf berufen, dass er die einzelnen Arbeitszeiten bewusst nicht erfassen will.

Das ist 20 Jahre her! Warum hat das niemand zur Kenntnis genommen?

Vermutlich haben die Betriebsräte den Informationsanspruch, den ihnen das BAG hier zugesprochen hat, nicht so häufig genutzt, sodass dieses Urteil nicht weiter beachtet wurde.Erst der Europäische Gerichtshof hat dann2019 den Dornröschenschlaf vermeintlich beendet. Der EuGH urteilte: „Die nationalen Gesetzgeber sind verpflichtet, die Arbeitgeber zur Einrichtung von Systemen zur Messung der täglichen Arbeitszeit zu verpflichten.“  

Das ist ja ziemlich eindeutig. Was hat der Gesetzgeber seitdem gemacht?

Im Endeffekt nichts. Der EuGH hat darauf hingewiesen, dass der Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer nur mit einer genauen Erfassung der Arbeitszeiten gewährleistet werden kann. Wenn der Arbeitgeber nicht weiß, von wann bis wann die Beschäftigten gearbeitet haben, etwa wann sie Pause gemacht haben, kann er auch nicht wissen, ob Höchstarbeitszeiten und Ruhezeiten zwischen den einzelnen Schichten eingehalten wurden. Und im Übrigen auch nicht die Behörden, die die Einhaltung des Gesetzes überwachen sollen.

Warum brauchte es dann noch das viel zitierte „Paukenschlag-Urteil“ des BAG? 

Der Ansatz war ein völlig anderer. Es ging um die Frage, ob Betriebsräte die Arbeitszeiterfassung gegenüber dem Arbeitgeber erzwingen können. Das war bislang nicht möglich, weil das BAG stets geurteilt hatte, dass ein Betriebsrat bei Systemen, die Leistung oder Verhalten der Arbeitnehmer überwachen, keine erzwingbare Mitbestimmung in Bezug auf die erstmalige Errichtung der Überwachung haben sollte, weil es im Gesetz vonseiten des Betriebsrats nur um die Abwehr der Überwachung durch den Arbeitgeber ginge. Jetzt kam aber der Gesundheitsschutz ins Spiel. Die Arbeitszeiterfassung diente laut EuGH ja gerade den Interessen der Beschäftigten. Das BAG hat dem aber einen Riegel vorgeschoben, weil die Arbeitszeiterfassung schon gesetzlich vorgeschrieben war.

Moment mal. Das klang doch oben ganz anders: Im Arbeitszeitgesetz stand doch gerade nichts dergleichen.

Deswegen ja auch der „Paukenschlag“. In der Tat hatte niemand auf dem Schirm, dass sich die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung aus dem Arbeitsschutzgesetz ableiten ließe, wie es das BAG dann gemacht hat. Und wenn es schon gesetzliche Pflicht ist, dann kann der Betriebsrat auch nur noch beim „Wie“ der Erfassung, aber nicht mehr beim „Ob“ mitbestimmen.

Was hat das BAG am 13. September 2022 genau geurteilt?

Die Arbeitgeber sind verpflichtet, die Arbeitszeit der Arbeitnehmer zu erfassen. Allerdings kann der Gesetzgeber Ausnahmen davon regeln. Und auch das BAG hat nicht vorgeschrieben, wie erfasst werden muss. Nach wie vor könnte also Vertrauensarbeitszeit für bestimmte Arbeitnehmergruppen geregelt werden oder zum Beispiel die Selbstaufzeichnung durch die Arbeitnehmer.

Wollte der Gesetzgeber jetzt nicht reagieren?

Angekündigt hatte er es. Es gab sogar schon einen Referentenentwurf. Jetzt sieht es aber so aus, dass zunächst einmal doch nichts kommt, denn eine Regelung zur Arbeitszeiterfassung steht offenbar nicht mehr auf der Liste der gesetzgeberischen Vorhaben bis zum Ende der Legislaturperiode.

Die VAA-Mitglieder, die in Vertrauensarbeitszeit tätig sind, dürfte die Entwicklung doch freuen: Die Flexibilität bleibt erhalten – es muss nicht umfangreich aufgeschrieben werden, wann gearbeitet wurde.

Ja, das ist eine Sicht der Dinge. Es gibt Erhebungen, dass Arbeitnehmer in Vertrauensarbeitszeit drei Stunden pro Woche mehr arbeiten als ihre Kollegen mit Arbeitszeiterfassung. Der VAA hat 2019 eine Umfrage zur Arbeitszeiterfassung durchgeführt. Da war für die Hälfte das Wunschmodell Vertrauensarbeitszeit. Und die Arbeitnehmer in der Erfassung fanden dieses Modell auch ganz gut, weil die Arbeitsbelastung so dokumentiert wurde.

Es kommt auf die persönliche Situation an: Wird Vertrauensarbeitszeit im Unternehmen mit Betonung auf Vertrauen der Vorgesetzten gelebt, ist das prima. Bei Misstrauen wünscht man sich gern die Erfassung, um die eigene Leistung auch diesbezüglich dokumentieren zu können.

Gibt es nicht auch Gefahren bei der Arbeitszeiterfassung? Immerhin kann man selbst ja auch viel intensiver kontrolliert werden.

Das ist vollkommen richtig. Gerade in letzter Zeit sind mir viele Urteile aufgefallen, in denen Beschäftigte wegen Arbeitszeitbetruges gekündigt wurden. Da reicht schon der objektiv begründete Verdacht, dass etwas nicht stimmt. So war ein Arbeitnehmer vom Vorgesetzten mehrfach morgens nicht im Büro auffindbar, obwohl er sich – digital – eingebucht hatte und auch die Berechtigung zum Homeoffice an diesen Tagen nicht hatte. Die Kündigung ging durch.

Reichen da etwa wirklich schon kleinste Verstöße?

Ja, die Gerichte urteilen, dass auch ein kleiner Verstoß ein strafrechtlich relevanter Betrug ist, da der Arbeitnehmer Geld für eine Leistung bekommt, die er nicht erbracht hat. Selbst der Datenschutz hilft nicht. Das BAG hat kürzlich Videoaufnahmen zur Beweisführung genehmigt, die datenschutzrechtlich längst hätten gelöscht sein müssen. Letztlich ist in allen diesen Fällen das Vertrauen erschüttert, dass ein Arbeitsverhältnis in Zukunft störungsfrei ablaufen wird.

Die Gerichte berücksichtigen dabei auch, dass es für die Arbeitgeber unheimlich schwer ist, die Arbeitszeit zu kontrollieren. Der Vorgesetzte hat im oben genannten Fall wochenlang dokumentiert, dass er teilweise im Zehnminutentakt den Arbeitsplatz des Betroffenen aufgesucht hat und dass er ihn trotzdem nicht gefunden hat, obwohl der Arbeitnehmer eingebucht war … Die Arbeitszeiterfassung ist für die Arbeitnehmer so gesehen auch recht gefährlich.

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Urteil

Homeoffice: Mitbestimmungspflicht bei Regelung zur Rückkehr ins Büro

Wenn Arbeitnehmer laut Betriebsvereinbarung in Abstimmung mit ihren Vorgesetzten individuelle Absprachen über mobiles Arbeiten treffen können, ohne das „Wie“ zu regeln, ist eine allgemeine Weisung des Arbeitgebers, wonach eine Anwesenheit an vier Tagen pro Monat geboten ist, mitbestimmungspflichtig. Dies hat das Landesarbeitsgericht München entschieden.

Konkret hatte ein Arbeitgeber mit dem Betriebsrat des Unternehmens im Jahr 2016 in eine Betriebsvereinbarung abgeschlossen, die unter anderem die Möglichkeit individueller Vereinbarungen über mobiles Arbeiten in Abstimmung mit dem Vorgesetzten vorsah. Der deutlich überwiegende Teil der Arbeitszeit sollte laut Betriebsvereinbarung jedoch am regelmäßigen Arbeitsplatz geleistet werden. Während der Coronapandemie räumte das Unternehmen den Beschäftigten dann zunächst die Möglichkeit ein, nach Abstimmung mit der Führungskraft auch mobil zu arbeiten. Im weiteren Verlauf der Pandemie wurde den Mitarbeitern vom Arbeitgeber empfohlen, von zu Hause zu arbeiten. Ab März 2022 galt dann eine Regelung, wonach bis zu 50 Prozent der Mitarbeiter eines Bereichs „auf Grundlage des Freiwilligkeitsprinzips“ die Möglichkeit angeboten wurde, zeitgleich im Büro zu arbeiten. Im Wortlaut hieß es in der Regelung: „Jede/r Kolleg:in entscheidet dabei weiterhin frei, ob er/sie im Büro arbeitet.“

Nach dem Ende der Coronapandemie und dem Auslaufen zwischenzeitlich aufgrund des russischen Kriegs gegen die Ukraine getroffener Energiesparmaßnamen teilte der Arbeitgeber den Mitarbeitern am 28. März 2023 per Videokonferenz mit, dass die bisherige Regelung zum 31. März 2023 auslaufen werde und veröffentlicht eine Intranet-Mitteilung, mit der vier Präsenztage pro Monat auf Basis eines Katalogs mit Präsenzgründen sowie weitere Präsenz bei bestimmten betrieblichen Gründen angeordnet wurden. Der Betriebsrat sah dadurch seine Mitbestimmungsrechte verletzt und stellte im Eilverfahren vor dem Arbeitsgericht erfolglos den Antrag, das Unternehmen zur Rücknahme seiner Anordnung zu verpflichten. 

Das Landesarbeitsgericht (LAG) München gab dagegen dem Antrag des Betriebsrats hingegen statt (Urteil vom 10. August 2023, Aktenzeichen: 8 TaBVGa 6/23). Das LAG verdeutlichte, dass nicht das „Ob“ mobiler Arbeit, sondern nur das „Wie“ der Mitbestimmung durch den Betriebsrat unterliegt und zum „Ob“ auch die grundsätzliche Bemessung des Kontingents an mobiler Arbeit zähle.

Die durch den Arbeitgeber kommunizierte Regelung beschränke sich aber nicht auf eine Einschränkung des Zeitkontingents für das mobile Arbeiten oder die Konkretisierung der geltenden Betriebsvereinbarung aus dem Jahr 2016. Vielmehr ziele das Unternehmen damit auf eine Umgestaltung der Rechtslage hinsichtlich des „Wie“ der mobilen Arbeit im Betrieb ab. Die Anordnung des Unternehmens sei somit mitbestimmungspflichtig und müsse zurückgenommen werden, bis mit dem Betriebsrat eine Einigung erzielt worden sei.

VAA-Praxistipp

Das Urteil des LAG München verdeutlicht, dass Arbeitgeber in Unternehmen mit betrieblicher Mitbestimmung die in vielen Fällen eingeführten Homeoffice-Regelungen nicht einseitig abändern können. Soweit nicht das „Ob“, sondern das „Wie“ der Homeoffice-Regelung betroffen ist, hat der Betriebsrat ein Mitbestimmungsrecht.

Dieser Artikel ist erstmals im VAA Newsletter in der Oktoberausgabe 2023 veröffentlicht worden.

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