Urteil
BAG: Pflicht zur Kenntnisnahme von Weisungen nach Feierabend
Ist Beschäftigten auf Grundlage betrieblicher Regelungen bekannt, dass der Arbeitgeber die Arbeitsleistung für den folgenden Tag in Bezug auf Uhrzeit und Ort konkretisieren wird, sind verpflichtet, eine dazu per SMS mitgeteilte Weisung auch in ihrer Freizeit zur Kenntnis zu nehmen. Dies hat das Bundesarbeitsgericht entschieden.
Ein als Rettungssanitäter beschäftigter Arbeitnehmer war für seinen Arbeitgeber im Rahmen eines Schichtmodells tätig gewesen, das unter anderem die Verpflichtung vorsah, kurzfristige Konkretisierungen hinsichtlich Einsatzort und Uhrzeit zu befolgen. Ein solch unkonkreter Springerdienst war im Dienstplan des Arbeitnehmers für den 8. April 2021 vorgesehen. Am 7. April um 13:20 Uhr teilte der Arbeitgeber den Arbeitnehmer für den Folgetag in der Tagschicht mit Arbeitsbeginn 06:00 Uhr ein und versuchte vergeblich, den Arbeitnehmer telefonisch hierüber zu informieren. Um 13:27 Uhr übersandte der Arbeitgeber dem Mitarbeiter eine SMS mit der Information über den zugeteilten Dienst. Laut betrieblicher Regelung wäre dies noch bis 20:00 Uhr möglich gewesen. Der Arbeitnehmer zeigte am nächsten Tag um 07:30 Uhr telefonisch seine Arbeitsbereitschaft an, der Arbeitgeber hatte jedoch zwischenzeitlich einen Mitarbeiter aus der Rufbereitschaft herangezogen und setzte den Arbeitnehmer an diesem Tag nicht mehr ein. Außerdem erteilte dem Arbeitnehmer eine Ermahnung, bewertete den Tag als unentschuldigtes Fehlen und zog elf Stunden vom Arbeitszeitkonto ab.
In einem vergleichbaren Fall einige Monate später trat der Arbeitnehmer seinen Dienst rund zwei Stunden später an als am Vortag per SMS und E-Mail zugewiesen. Der Arbeitgeber zog die entsprechenden Stunden erneut vom Arbeitszeitkonto ab und sprach eine Abmahnung wegen unentschuldigten Fehlens aus. Der Arbeitnehmer klagte dagegen vor dem Arbeitsgericht mit der Begründung, er sei nicht verpflichtet, sich während seiner Freizeit über die Dienstzuteilung zu informieren. Das Arbeitsgericht wies die Klage ab, das Landesarbeitsgericht gab dem Arbeitnehmer jedoch Recht.
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) entschied, dass der Arbeitnehmer seiner Nebenpflicht aus dem Vertragsverhältnis, die Zuteilung des Dienstes zur Kenntnis zu nehmen, auch außerhalb seiner eigentlichen Dienstzeit nachkommen müsse. Das ergebe sich aus § 241 Absatz 2 BGB, wonach jede Partei des Arbeitsvertrags zur Rücksichtnahme auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen ihres Vertragspartners verpflichtet ist (Urteil vom 23. August 2023, Aktenzeichen: 5 AZR 349/22). Dafür habe der Arbeitnehmer – anders als von ihm behauptet – nicht ununterbrochen für den Arbeitgeber erreichbar sein müssen. Es sei ihm überlassen gewesen, wann und wo er Kenntnis von der SMS nehmen wollte, mit der ihn der Arbeitgeber über die Konkretisierung seines Springerdienstes informiert hat. Der eigentliche Moment der Kenntnisnahme der SMS sei zeitlich derart geringfügig, dass auch dadurch nicht von einer erheblichen Beeinträchtigung der Nutzung der freien Zeit ausgegangen werden könne, so das BAG. Folglich sei der Arbeitnehmer verpflichtet gewesen, die geschuldete Arbeitsleistung entsprechend der vom Arbeitgeber hinsichtlich Zeit und Ort erfolgten Konkretisierung anzubieten. Da er das nicht getan hatte, durfte der Arbeitgeber das Arbeitszeitkonto entsprechend kürzen und eine Abmahnung aussprechen.
VAA-Praxistipp
Mit seinem Urteil hat das BAG klargestellt, dass es für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer kein absolutes Recht auf Unerreichbarkeit in der Freizeit gibt. Vielmehr kann eine arbeitsvertragliche Nebenpflicht zur Kenntnisnahme von Weisungen in der Freizeit bestehen, wenn die betrieblichen Regelungen das so vorsehen.
Dieser Artikel ist erstmals im VAA Newsletter in der Januarausgabe 2024 veröffentlicht worden.
Interview mit Stefan Ladeburg
Was ändert sich dieses Jahr im Arbeitsrecht?
Auch 2024 gibt es einige für Beschäftigte und Unternehmen wichtige arbeitsrechtliche Neuerungen. Darüber hat sich das VAA Magazin mit Stefan Ladeburg vom Juristischen Service unterhalten. Der Stellvertretende Hauptgeschäftsführer des VAA geht dabei unter anderem auf die Verringerung der Anspruchsdauer beim Kinderkrankengeld und die Einrichtung von Meldestellen für Whistleblower ein.
VAA Magazin: Winterzeit ist Krankheitszeit – fangen wir daher direkt mit dem Attest für Beschäftigte an. Hat sich seit dem Start des neuen Jahres etwas an der telefonischen Krankschreibung geändert?
Ladeburg: Präzise eigentlich schon seit Ende des letzten Jahres. Denn wie bereits in den Zeiten der Pandemie können sich seit dem 7. Dezember 2023 Patienten wieder telefonisch krankschreiben lassen. Voraussetzung hierfür ist erstens, dass Patient und Hausarzt bereits bekannt sind und eine Videosprechstunde nicht möglich ist. Zweitens erfolgt die Krankschreibung maximal für fünf Tage. Drittens darf es sich lediglich um eine leichte Erkrankung handeln.
Darüber hinaus sind auch in geeigneten Fällen Krankschreibungen per Videosprechstunde möglich. Hier ist eine Krankschreibung bei dem Arzt persönlich bekannten Patienten für bis zu sieben Tagen möglich, bei noch nicht persönlich bekannten Patienten bis zu drei Tagen.
Wie erfolgt die Übermittlung der Daten?
Es gilt weiterhin, dass seit Einführung der elektronischen Krankschreibung im Jahr 2023 die Ärzte die Arbeitsunfähigkeitsdaten für gesetzlich Versicherte grundsätzlich elektronisch an die Krankenkassen übermitteln, wo sie von den Arbeitgebern direkt abgerufen werden müssen. Beschäftigte müssen jedoch unabhängig davon ihrem Arbeitgeber weiterhin unverzüglich eine bestehende Arbeitsunfähigkeit und die voraussichtige Dauer anzeigen, auch wenn sie wegen der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung dem Arbeitgeber in der Regel keine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung mehr vorlegen müssen.
Und was passiert bei berufstätigen Eltern in Sachen Kinderkrankengeld, wenn das Kind krank wird?
Gesetzlich Versicherte haben 2024 einen Anspruch auf 15 Tage Kinderkrankengeld pro Kind und Elternteil – Alleinerziehende auf 30 Tage. Insgesamt ist der Anspruch auf 35 Tage pro Elternteil begrenzt – bei Alleinerziehenden entsprechend auf 70 Tage. Dies stellt natürlich eine deutliche Absenkung dar. Denn bis zum 31.September 2023 konnte jedes gesetzlich versicherte Elternteil pro Kind bis zu 30 Tage Kinderkrankentagegeld beantragen und bei mehreren Kindern insgesamt maximal 65 Tage. Für Alleinerziehende bestand ein Anspruch auf 60 Tage pro Kind, bei mehreren Kindern waren es maximal 130 Tage. Hierbei handelte es sich jedoch um eine Regelung, die im Rahmen der Coronapandemie erlassen wurde.
Und wenn man die neue Regelung mit der Vorcoronazeit vergleich?
Hier ist festzustellen, dass die Regelung ab 2024 besser ist als die aus Vorpandemiezeiten bestehende Regelung. Damals hatten Eltern nämlich Anspruch auf nur zehn Tage Kinderkrankengeld – Alleinerziehende auf 20 Tage.
Verstanden. Nächster Punkt: Was gilt bei der Erhöhung des Mindestlohns und den neuen Minijob-Grenzen?
Im Jahr 2024 wird der gesetzliche Mindestlohn für alle Beschäftigten auf 12,41 Euro pro Stunde angehoben. Die Verdienstgrenze für Minijobs steigt damit von bisher 520 auf nunmehr 538 Euro monatlich. Die Jahresverdienstgrenze erhöht sich damit entsprechend auf 6.436 Euro. Minijobber dürfen damit weiterhin bis zu 43,35 Stunden im Monat arbeiten. Zu beachten ist, dass die Arbeitsverträge, die einen niedrigeren Stundenlohn vorsehen, aufgrund der Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns gegebenenfalls angepasst werden müssen.
Kommen wir jetzt zu einem Thema, das für Teile unserer Mitgliedschaft durchaus eine hohe Relevanz besitzt. Gute Führung und Compliance werden nicht immer überall im nötigen Maß praktiziert. Hier kommen Whistleblower ins Spiel. Wie sieht es nun mit den geplanten Meldestellen für Whistleblower aus?
Whistleblower werden künftig vor Kündigungen und anderen negativen Konsequenzen geschützt. Das Hinweisgeberschutzgesetz vom 20. Juli 2023 schützt Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die dann bei den vorgehsehenden Meldestellen Missstände melden, die ihnen im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit bekannt geworden sind. Zusätzlich zu den externen Meldestellen, die zum Beispiel beim Bundesamt für Justiz eingerichtet worden sind, sind Unternehmen mit mindestens 50 Beschäftigten nunmehr verpflichtet, eine eigene Meldestelle einzurichten.
Übrigens: Die Pflicht zur Einrichtung eigener Meldestellen bestand bisher bereits für größere Unternehmen. Am 17. Dezember 2023 lief eine Übergangsfrist für kleinere Unternehmen mit 50 bis 249 Beschäftigten aus. Diese sind nunmehr auch verpflichtet, Meldestellen einzurichten. Eine Verletzung der Pflicht zur Einrichtung interner Meldestellen kann seit dem 1. Dezember 2023 mit Bußgeldern belegt werden.
Was empfehlen Sie betroffenen VAA-Mitgliedern?
Es gilt das, was ich unseren Mitgliedern immer empfehle: Wer Missstände melden will, sollte sich vorher unbedingt auch mit den Juristinnen und Juristen des VAA abstimmen.
Jahresstatistik zum Juristischen Service
Neue Rekorde bei Rechtsbeistand und Rechtsberatung
2023 haben sich die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen im Ganzen verschlechtert: Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine geht unvermindert weiter, die Wirtschaftskrise hat sich vor allem für die Chemiebranche verhärtet und die Politik in Berlin hat nur wenige positive Akzente gesetzt. Wenig überraschend haben sich noch mehr VAA-Mitglieder vom Juristischen Service beraten lassen als in den Vorjahren. So sind bei der Rechtsberatung, beim Rechtsschutz und beim Rechtsbeistand die Fallzahlen weiter gestiegen.
Einen neuen Rekord haben die Juristinnen und Juristen des VAA bei der Gesamtzahl der Rechtsberatungen zu verzeichnen: 2023 hat es insgesamt rund 5.100 Beratungskontakte gegeben – 2022 waren es etwa 4.400, was bereits die Rekordmarken der beiden Vorjahre übertraf. Was ist unter dem Begriff der Rechtsberatung zu verstehen? „Sie umfasst alle telefonischen, schriftlichen und persönlichen Beratungstermine mit unseren Mitgliedern in sämtlichen zu klärenden Rechtsfragen“, erklärt VAA-Hauptgeschäftsführer Stephan Gilow. „Wir haben diese Entwicklung in unserem Team angesichts des bereits 2021 und 2022 stark gestiegenen Beratungsbedarfs zwar erwartet, aber waren dennoch überrascht von der Intensität.“ Dies zeige das Ausmaß der Krise, in der sich die Branche befinde.
Einen deutlichen Anstieg von 318 auf 362 hat es 2023 bei den sogenannten Beistandsfällen gegeben. Aus einer Rechtsberatung wird ein Beistandsfall, wenn die VAA-Juristen offiziell zur Kommunikation mit dem Unternehmen hinzugezogen werden. Gilow ergänzt: „Geht es schließlich vor Gericht, wird aus einem Beistands- ein Rechtsschutzfall.“ Im Unterschied zu den Beratungen und den Beistandsfällen ist die Zahl der Rechtsschutzfälle im Jahr 2023 von 248 leicht auf 243 gesunken. „Wir sprechen aber auch hier noch von einem ziemlich hohen Niveau im Vergleich zur Zeit vor Corona“, ordnet Stephan Gilow ein.
Erfolg durch Deeskalation
Gleich geblieben ist dem VAA-Hauptgeschäftsführer zufolge das Ziel der Deeskalation in den Rechtsstreitigkeiten: „Wir versuchen, uns möglichst frühzeitig in die Konflikte einzuschalten und mit den Arbeitgebern außergerichtliche Vergleiche zu erzielen. Oft führt diese Strategie am Ende zu den besten Ergebnissen für unsere Mitglieder.“ Andererseits gewährt der VAA seinen Mitgliedern natürlich die volle Unterstützung, wenn Eskalationen unvermeidlich seien: „Es kommt zwar nicht häufig vor, aber wir können auch bis vor das Bundesarbeitsgericht oder das Bundesverfassungsgericht ziehen.“ Entscheidend sei immer die individuelle Fallsituation.
Hinsichtlich der Beratungsthemen berichtet Gilow von einer ähnlichen Verteilung wie 2022: „Es ging 2023 nochmals verstärkt um Aufhebungsverträge und Kündigungen und andere Fragen rund um geplante oder im Raum stehende Umstrukturierungen in den Unternehmen.“ Schon im vorletzten Jahr haben die VAA-Juristen eine Zunahme der Besorgnis in der VAA-Mitgliedschaft gespürt. „Dieses Gefühl hat 2023 leider noch öfter eine Rolle in unseren Gesprächen gespielt.“ Seit der Coronapandemie ebenfalls auf der Agenda stünden Fragen zu flexiblen Arbeitsmodellen und Homeoffice sowie Beratungen zur vertragsgemäßen Beschäftigung und Zeugnissen.
Der Juristische Service des VAA hat schon immer zu den wichtigsten Dienstleistungen des Verbandes gehört. Die Juristinnen und Juristen sind auf die Chemie- und Pharmaindustrie spezialisiert mit den Besonderheiten der Branche bestens vertraut. „Jede Juristin und jeder Jurist betreut bei uns im Team bestimmte Werksgruppen und Unternehmen“, so Stephan Gilow. „Daher kennen wir auch die individuell auftretenden betriebspolitischen Probleme in den einzelnen Unternehmen. In unseren wöchentlichen Jour fixes tauschen wir uns auch untereinander über besonders komplizierte Fälle aus, um noch bessere Lösungsansätze und Verhandlungswege zu finden.“ Das Team des Juristischen Service ist im Vergleich zum Vorjahr unverändert geblieben.
In seiner Rückschau aufs vergangene Jahr betont Gilow den Beratungsvorteil für VAA-Mitglieder: „Ich wiederhole mich an dieser Stelle gern: Unsere langjährige Erfahrung gerade bei der Beratung außertariflicher und leitender Angestellter ist ein Alleinstellungsmerkmal des VAA. So eine Expertise ist im Angebot herkömmlicher Rechtsschutzversicherungen kaum zu finden.“ Das Team arbeite gerade in diesen für viele VAA-Mitglieder schwierigen Zeiten zielstrebig und effizient zusammen. „Unsere wichtigste Leitlinie war, ist und bleibt, die arbeitsrechtlichen Interessen unserer Mitglieder in den Werks- und Landesgruppen optimal zu vertreten.“