Zukunft der Arbeitswelt
Kollege KI – Konkurrenz oder Verstärkung?
Von Axel Ditteney-Botzen und Simone Leuschner
„Ich habe Sie als Mitarbeitende immer geschätzt, aber nun muss ich Sie leider entlassen, da wir bei uns im Unternehmen dank des breiten Einsatzes Künstlicher Intelligenz weniger menschliche Arbeitskraft brauchen. Für die Auswahl, wer von Ihnen den Job verliert, bin ich nicht verantwortlich, das hat unser HR-System entschieden. Ihre Abschlusszeugnisse habe ich gerade ebenfalls aus dem System gezogen und kann mich den Ausführungen nur anschließen.“ Ist ein solches Gespräch für Fach- und Führungskräfte in der Industrie in nicht allzu ferner Zukunft ein realistisches Szenario – oder glücklicherweise nur Science-Fiction?
„Ersetzen Maschinen langfristig den Menschen?“ Diese Frage stellte sich die New York Times in Bezug auf eine aktuelle Studie – im Jahr 1940! Die Sorge, dass jeder Schritt zur weiteren Automatisierung und Standardisierung von Aufgaben und Abläufen zum Verlust von Arbeitsplätzen führen könnte, ist jedoch geblieben. Eine Großzahl der Vorgesetzten und Projektverantwortlichen in Industrieunternehmen und Wirtschaftsbetrieben werden bereits mit entsprechenden Sorgen und Ängsten, Skepsis und Widerstand der Beschäftigten ihrer Bereiche konfrontiert gewesen sein. „Ich mache da nicht mit, ich säge doch nicht an dem Ast, auf dem ich sitze“, entgegnete vor Jahren eine Mitarbeiterin meines Teams, als ich sie bat, sich in einem Projekt zu engagieren, das die systemgestützte Überprüfung von Kundenaufträgen auf Verzögerungen bei der Versandbereitstellung verbessern und ihr damit lästige, manuelle Kontrollaufgaben abnehmen sollte. Die Mitarbeiterin ist auch etwa 15 Jahre später noch im Unternehmen. Ihren damaligen Job gibt es nicht mehr, aber als mein ehemaliges Team zunächst verkleinert und dann vor ein paar Jahren aufgelöst wurde, ist sie auf eine andere Stelle im Logistikmanagement gewechselt. Wie ich vor Kurzem hörte, sei sie mit den neuen Aufgaben ganz zufrieden …
Der befürchtete Verlust von Arbeitsplätzen ist nicht absolut zu betrachten. Die industrielle Revolution hat im Laufe der Zeit nicht nur Arbeitsplätze vernichtet, sondern auch neue beziehungsweise andere geschaffen. Nichts deutet aktuell darauf hin, dass in naher Zukunft eine große „Jobapokalypse“ droht. Jedenfalls ist die Arbeitslosenquote in Deutschland im Jahr 2023 stabil geblieben. Die eigentliche Frage ist, ob wir künftig die KI im Job für uns einsetzen – oder ob die KI uns sagt, was wir tun sollen, und uns unsere Aufgaben im Extremfall sogar abnimmt. In einem Artikel der Zeit vom 30. November 2023 wird der Frage nachgegangen, ob wir nun alle arbeitslos würden. Antwort: Nein, das sei aktuell nicht zu befürchten. Das „Bedrohungsszenario“ habe sich aber in den letzten zehn Jahren drastisch verändert. Jahrzehntelang galt, dass eine akademische Ausbildung praktisch eine Versicherung gegen den Wegfall des Jobs durch Automatisierung und Digitalisierung darstelle. Bedroht waren eher manuelle Tätigkeiten und Kontrollaufgaben, für die weder Flexibilität noch physische oder geistige Anpassungsfähigkeit notwendig waren, sondern die repetitiv und streng regelbasiert ausgeführt werden konnten.
Mit der Veröffentlichung von internetbasierten Sprachmodellen wie ChatGPT (Abkürzung für „Generative Pre-trained Transformers“, eine Familie der Neuronalen Netzwerkmodelle) und anderen generativen Künstlichen Intelligenzen hat sich die Situation geändert. Die Autoren der aktuellen Studie „Generative KI und die Zukunft der Arbeit: eine Neubewertung“ kommen zum Schluss, dass jetzt auch Hochschulabsolventinnen und -absolventen bedroht seien. Sie würden zunehmend unter Druck geraten, noch exzellenter „performen“ zu müssen. Besonders radikal geäußert hat sich in diesem Zusammenhang jüngst Christopher Pissarides, ein mit dem Nobelpreis ausgezeichneter Arbeitsökonom an der London School of Economics: Pissarides hat die junge Generation vor einem MINT-Studium gewarnt. Arbeitnehmer in bestimmten IT-Berufen liefen Gefahr, ihre eigene „Saat der Selbstzerstörung“ zu säen, indem sie die KI vorantrieben, die in Zukunft ihre Arbeitsplätze übernehmen werde. Langfristig würden seiner Meinung nach hingegen „Management-, Kreativ- und Empathiefähigkeiten, einschließlich Kommunikation, Kundendienst und Gesundheitswesen, wahrscheinlich weiterhin sehr gefragt sein, da sie durch Technologie, insbesondere KI, weniger ersetzbar sind“.
Aber was ist KI eigentlich? Im Internet und in Präsentationen wird immer wieder Bezug genommen auf eine Definition, die das Europäische Parlament im September 2020 veröffentlich hat: Demnach werde unter Künstlicher Intelligenz die Fähigkeit einer Maschine verstanden, menschliche Fähigkeiten wie logisches Denken, Lernen, Planen und Kreativität zu imitieren. „KI ermöglicht es technischen Systemen, ihre Umwelt wahrzunehmen, mit dem Wahrgenommenen umzugehen und Probleme zu lösen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Der Computer empfängt Daten (die bereits über eigene Sensoren, zum Beispiel eine Kamera, vorbereitet oder gesammelt wurden), verarbeitet sie und reagiert. KI-Systeme sind außerdem in der Lage, ihr Handeln anzupassen, indem sie die Folgen früherer Aktionen analysieren und autonom arbeiten.“
Der im Sommer 2023 vom Parlament verabschiedete Vorschlag für eine KI-Verordnung der Europäischen Union („KI-VO“, englisch „AI Act“) enthält erstmalig eine abgestimmte Definition. Der Entwurf definiert KI als „ein System, das so konzipiert ist, dass es mit Elementen der Autonomie arbeitet und das auf der Grundlage von maschinellen und/oder von Menschen bereitgestellten Daten und Eingaben mithilfe von maschinellem Lernen und/oder logik- und wissensbasierten Ansätzen ableitet, wie bestimmte Ziele erreicht werden können, und systemgenerierte Ergebnisse wie Inhalte (aus generativen KI-Systemen), Vorhersagen, Empfehlungen oder Entscheidungen erzeugt“, welche die Umgebungen beeinflussen, mit denen das KI-System interagiert.
KI als Kollege
Generative KI kann und wird Agenturarbeit in Werbung und Medien schon kurzfristig ersetzen. Bei Covestro in Leverkusen zeichnet sich das bereits klar ab, so Dimitri Nadeschdin, der im Team von Nils Janus, dem neu gekürten Chief AI Officer und ehemaligen Director of Data Science von Covestro, bei Change-Management und -Kommunikation unterstützt. Nadeschdin hat vorher, im „alten Lieblingsjob“, wie er im Interview betont, die Social-Media-Auftritte des Unternehmens geprägt. Viele Social-Media-Posts erstellt heute bereits „Kollege KI“ … Beiden macht das keine Angst, im Gegenteil. Sie wollen die Diskussion um Chancen und Risiken von der emotionalen auf die sachliche Ebene führen. Auf philosophischer Ebene werde, so hat Janus das wahrgenommen, gefragt: „Wer ist besser? Wer leitet wen an?“ Die Fragestellung sei ihm zu unspezifisch und nicht generell beantwortbar; es müsse stattdessen auf Sachebene diskutiert werden, Sachverhalte sollen entscheidend sein, beispielsweise das versprochene und gelieferte Arbeitsergebnis. Das ermögliche dann auch eine steuerbare, optimale und nachvollziehbare Verteilung von menschlicher und künstlicher Arbeitskraft.
Janus und Nadeschdin halten eine EU-KI-Regulierung, mindestens in der sich abzeichnenden Form, für überflüssig. Die Verantwortlichen in den Unternehmen müssten die anstehenden Fragen verantwortungsbewusst als „Corporate Citizens“ beantworten. Ihrer Ansicht nach werde es keine zentralen Vorgaben aus Berlin oder Brüssel geben. „Darauf zu warten, erzeugt höchstens eine Schockstarre.“ Einen Pflock schlagen sie aber ein: „Überwachung von Menschen müsse, egal durch welches Verhalten oder welche Technologie, verboten sein!“
Für Nils Janus ist auch klar: „KI wird zukünftig Führungsaufgaben übernehmen – kein Problem!“ Covestro wird einen geplanten KI-basierten „virtuellen Assistenten“ für die Mitarbeitenden so anlernen, dass dessen Antworten dem Verhaltenskodex und Ethos des Unternehmens entsprechen. Speziell zur Steigerung „sozialer Intelligenz“ in der Führungsarbeit seien KI-Werkzeuge gut geeignet und könnten viele Führungskräfte entlasten. Wenn es zum Beispiel darum ging, Mitarbeitenden zum Geburtstag zu gratulieren und einen Blumenstrauß zu bestellen, hätten das traditionell in den Führungsetagen vieler Unternehmen die Assistenzen übernommen, fügt er mit einem Zwinkern hinzu. „Kollege KI“ könnte aber auch „in der Person“ eines Bots auftreten, der Mitarbeitende und ihre Vorgesetzten im Personalmanagementsystem des Unternehmens bei der Bearbeitung von Aufgaben im besten Sinne mit Rat und Tat begleitet. Zum Abschluss unseres Austauschs betont Dimitri Nadeschdin, dass die Führungskräfte verstehen müssten, dass KI für die Chemie ein Do-or-die-Thema sei. „Das Tempo der KI-Entwicklung und -Adaption wird alle bisherigen Transformationen klar übertreffen und daher ein flexibles und ressourcenschonendes Innovationsumfeld erfordern.“
„Automatisierte Prozesse und KI sind ein Segen, wenn wir sie richtig einsetzen. Die Produktion der Zukunft muss vor allem nachhaltig sein, im ökonomischen, sozialen und ökologischen Sinne.“
Prof. Martin Ruskowski, Leiter des Lehrstuhls für Werkzeugmaschinen und Steuerungen an der Rheinland-Pfälzischen Technischen Universität Kaiserslautern sowie Vorstandsvorsitzender der Technologie-Initiative SmartFactory KL.
Regulierung mit Augenmaß?
So euphorisch und bedenkenlos erwarten nicht alle den Einzug Künstlicher Intelligenz in Industrie und Wirtschaft. Mit ihrem Vorschlag für harmonisierte Vorschriften für KI versucht die EU, KI mit einem risikobasierten Ansatz zu regulieren, bei dem die Anforderungen und Sanktionen in einem angemessenen Verhältnis zu dem Risiko stehen, das von einem System ausgeht. Das Europäische Parlament will durch eine Regulierung der künstlichen Intelligenz mit einem „KI-Gesetz“ sicherstellen, dass die in der EU eingesetzten KI-Systeme sicher, transparent, nachvollziehbar, nichtdiskriminierend und umweltfreundlich sind. KI-Systeme sollten von Menschen und nicht von der Automatisierung überwacht werden, um schädliche Ergebnisse zu verhindern. Am 9. Dezember 2023 erzielte das Parlament mit dem Rat eine vorläufige Einigung über das KI-Gesetz. Der vereinbarte Text muss nun sowohl vom Parlament als auch vom Rat formell angenommen werden, um EU-Recht zu werden.
Der Verband der Chemischen Industrie (VCI) fordert, neuen Technologien mit Offenheit zu begegnen und sie umsichtig und verantwortungsvoll zu regulieren, statt pauschale Einschränkungen zu verordnen. Im Juni 2020 forderte der VCI in einem Positionspapier, „horizontale regulatorische Top-down-Vorgaben können schnell komplexitätserhöhend oder sogar innovationshemmend wirken“. Der VCI plädiert für eine einheitliche EU-Regulierung, welche die Chancenorientierung statt Risikovermeidung betone, indirekte KI-Regulierungen innovationshemmende, zu enge regulatorische Vorgaben vermeide sowie grundsätzlich Ausnahmen vor die Regel setze.
In einem weiteren VCI-Positionspapier vom 4. Oktober 2023 heißt es: „Die breite industrielle Nutzung Künstlicher Intelligenz steht erst am Anfang. Der Erfolg hängt stark von einem innovationsfreundlichen Umfeld ab. Eine Regulierung sollte über nationale Grenzen hinweg abgestimmt sein, damit es nicht zu lokalen Wettbewerbsnachteilen kommt. Es muss verhindert werden, dass zukünftige Geschäftsmodelle oder Innovationen durch aktuelle Regulierungsinitiativen beschnitten werden.“
KI als Helfer oder Entscheider?
Mit KI in der Personalarbeit beschäftigen sich die Kolleginnen und Kollegen im Konzernsprecherausschuss von Covestro inzwischen intensiver. Ein Austausch mit Chief AI Officer Nils Janus steht in Kürze an. Danach werde sich die Sicht „schärfen“, erwartet Kai Laemmerhold, der im Sprecherausschuss Führungsthemen vertritt. „Wir freuen uns auf die gemeinsame Überlegung für die nächsten Schritte und weitere Ausgestaltung mit Nils Janus.“ Er betont, dass der Sprecherausschuss „komplett hinter den Positionen der ULA steht“ und formuliert als Grundbedingung für die Ausgestaltung unternehmensinterner Regelungen, dass „bei der Personalauswahl die letzte Entscheidung immer durch Menschen erfolgen muss“. Der politische Dachverband des VAA hatte erst im Herbst bei der VAA-Jahreskonferenz sein Positionspapier zum Einsatz von KI vorgestellt. Die zehn Punkte umfassenden „Guidelines für Führungskräfte“ dienen als Handreichung für die Sprecherausschüsse und sollen Orientierung geben, wenn es um Transparenz, Weiterentwicklung, Mitbestimmung, Diskriminierungsfreiheit oder Datensicherheit beziehungsweise Privatsphäre bei der Gestaltung von Aufgaben und Arbeitsplätzen in den Unternehmen geht. Bei der Formulierung der Leitsätze wurden Textvorschläge von ChatGPT ausgewertet, beraten und weiterentwickelt.
Führung übernehmen, Wandel gestalten
Das Risiko der Verdrängung von Arbeitsplätzen ist ein großes Problem, aber es ist wichtig zu erkennen, dass KI auch neue Möglichkeiten und Anforderungen für die Unternehmen schafft. Die deutsche Chemiebranche ist bekannt für ihre Innovations- und Anpassungsfähigkeit. Welche Fragen werden Brisanz bekommen und welche Antworten darauf können Führungskräften helfen, um auf die Herausforderungen gestalterisch zu reagieren? Vier Beispiele, entnommen aus dem aktuellen Diskurs:
- Arbeitnehmervertreter, Management und Beschäftigte sollten zusammenarbeiten, um den potenziellen Auswirkungen von KI tatkräftig zu begegnen. Dialog und Verhandlungen sind entscheidend, um die Rechte und Interessen unserer Belegschaft zu wahren.
- Investitionen in kontinuierliche Aus- und Weiterbildungsprogramme sind unerlässlich. Die Beschäftigten müssen mit den notwendigen Fähigkeiten ausgestattet sein, um mit KI-Systemen zusammenzuarbeiten. Die Verantwortlichen in Politik und Verwaltung, die Industrie über ihre Verbände und die Arbeitgeber sollten Initiativen zur Kompetenzentwicklung und Umschulung unterstützen.
- Es sollte sichergestellt werden, dass die Einführung von KI nicht gegen die Rechte, die Arbeitsplatzsicherheit und das Wohlergehen der Beschäftigten verstößt. Angemessene Schutzmaßnahmen und Garantien sind durch Vereinbarungen zwischen den Tarifparteien festzulegen.
- Die Förderung des ethischen Einsatzes von KI ist von entscheidender Bedeutung, um sicherzustellen, dass sie die menschliche Arbeit ergänzt und nicht ersetzt. Transparenz, Rechenschaftspflicht und die Einhaltung ethischer Richtlinien stehen an erster Stelle.
KI-Nutzung ist „Typsache“
Mit einer jüngeren Kollegin bei Covestro, die als promovierte Chemikerin bereits erste Führungserfahrung sammeln durfte, habe ich über die menschliche Seite der Auseinandersetzung mit den Chancen und Risiken des Einsatzes von KI-Instrumenten gesprochen und wichtige Einsichten zum individuellen Vorgehen bei der Nutzung von Informationsquellen mitgenommen: Menschen erschließen sich Wissen, recherchieren Information und bewerten die Relevanz von Ergebnissen unterschiedlich. Manche profitieren von der Art der Wissensaneignung, wie sie durch ChatGPT möglich ist, nämlich zu arbeiten, und lernen durch Brainstorming und gezieltes Nachfragen bei Sprachmodellen und Suchmaschinen. Andere Menschen sammeln zunächst enorm viel Wissen aus Büchern, Veröffentlichungen oder Onlinequellen und prüfen, bewerten und überführen dieses erst später in ihre Arbeit.
Nach den Erfahrungen der Kollegin, meinen eigenen und denen vieler anderer Führungskräfte, mit denen ich in der Vergangenheit über Change-Management sprach, gibt es verschiedene „Typen“ von Menschen, und sie werden KI wahrscheinlich auf verschiedene Weise nutzen oder anwenden. Ebenso entscheiden sich Menschen aus ganz eigenen Gründen und zu sehr unterschiedlichen Zeitpunkten dazu, neue Technologien oder Arbeitsweisen auszuprobieren und zu adaptieren. Mögliche Faktoren können dabei sein: Alter, Intellekt, Bildung, Risikobereitschaft, die Angst vor Nachteilen oder das Streben nach Vorteilen sowie die generelle Veränderungsbereitschaft der Betroffenen. All diese Aspekte sollten durch Arbeitgeber, Arbeitnehmervertreter, Führungskräfte und Beschäftigte bei der Planung, Vorbereitung, Ausgestaltung und späteren Anpassungen von KI-Instrumenten und der begleitenden, unersetzlichen Veränderungskommunikation beachtet werden.
Werden wir Landschaftsbauer?
Der Aufstieg von KI in der deutschen Chemie hat längst begonnen und ist eine Realität, der sich alle stellen sollten. Die Verdrängung von Arbeitsplätzen birgt zwar Herausforderungen, bietet aber gleichzeitig Chancen für Wachstum, Innovation und verbesserte Arbeitsbedingungen. Es liegt auch in der Verantwortung der Fach- und Führungskräfte, diesen Wandel so zu gestalten, dass sowohl die Branche als auch ihre Beschäftigten davon profitieren. Indem Menschen zusammenarbeiten, können sie gemeinsam eine Zukunft gestalten, in der KI und menschliche Arbeit harmonisch nebeneinander existieren und die Stärke und Vitalität der Branche erhalten.
Der VAA wird diese sich entwickelnde Landschaft weiter erforschen und Informationen, Einblicke und Anleitungen bereitstellen, um seinen Mitgliedern zu helfen, sich in der sich verändernden Dynamik zurechtzufinden und die Landschaft mitzugestalten. Lassen Sie uns Einsichten und Ansichten, Ideen und Fragen miteinander teilen. Schreiben Sie einfach einen Leserbrief an redaktion@. vaa.de
Interview mit Prof. Martin Ruskowski
Prof. Martin Ruskowski von der RPTU Kaiserslautern ist Vorstandsvorsitzender der Technologie-Initiative SmartFactory KL und Forschungsbereichsleiter am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI).
VAA Magazin: In den letzten Jahren konnten die Möglichkeiten von KI-Systemen beachtlich weiterentwickelt werden. Immer bessere Software unterstützt immer bessere Maschinen, die konstante Prozesse immer schneller lösen können. Wie intelligent ist KI eigentlich?
Ruskowski: Wir unterscheiden zwischen KI-Methoden und Intelligenz. KI sehen wir als Ergänzung oder Erweiterung menschlicher Fähigkeiten. KI soll unterstützen. Sie kann sich natürlich weiterentwickeln, indem sie neue Daten auswertet, die in großen Mengen täglich dazukommen. Insofern sind KI-Methoden ein wichtiges und dynamisches Instrument in einem bestimmten Bezugsrahmen. Es ist natürlich auch möglich, diesen Bezugsrahmen zu vergrößern. Das setzen wir als SmartFactory KL beispielsweise im Projekt TWIN4TRUCKS mit vielen Partnern bei der Daimler Truck AG um. Dort geht es darum, einzelne Datensilos zu verbinden und so Daten sinnvoll zu einem Gesamtbild auf dem Shopfloor zu verknüpfen. Auch unsere Arbeiten mit Knowledgegraphen gehen in diese Richtung: Wir lassen völlig unterschiedliche Datenquellen verknüpfen und zusammenarbeiten, indem wir Korrelationen und Kausalitäten analysieren und auswerten lassen. KI kann sich definitiv weiterentwickeln, aber sie wird deshalb nicht intelligent. Der Mensch hat einmalige kognitive Fähigkeiten, an die Algorithmen noch nicht heranreichen. Wenn sie es überhaupt je schaffen.
Was passiert, wenn sich ein Fehler einschleicht? Ist es sinnvoll, die Stärken von Mensch und KI zusammenzuführen, weil es immer auch Entscheidungsvorschläge maschineller Systeme geben kann, die nicht passen?
Fehler in Programmierungen sind in der Regel nur von Menschen erkennbar. Wie soll auch eine KI feststellen, dass sie falsch arbeitet? Wenn eine KI ständig falsche Entscheidungen trifft, beispielsweise einen Motor abzuschalten, obwohl der Power-Knopf gedrückt ist, wie soll sie den Fehler erkennen? Das kann nur ein Mensch, der weiß, dass es einen Zusammenhang zwischen Power und laufendem Motor gibt. Für uns ist KI eine Ergänzung. KI kann bestimmte Tätigkeiten besser – Daten analysieren, Bilder auswerten et cetera, im Prinzip jede repetitive Handlung. Sie kann aber bestimmte Entscheidungen nicht treffen, Fehler erkennen oder Prozesse optimieren. Für uns ist die Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine eine Idealvariante, wobei die Rollenverteilung klar ist: Der Mensch bleibt der Souverän, der jederzeit eingreifen oder auch Prozesse stoppen kann. Egal ob Maschine oder Software, wir sprechen noch immer über Technologien ohne Seele oder Bewusstsein. KI wird aber in der Produktion der Zukunft unverzichtbar werden, weil die Gesamtsysteme immer komplexer werden und für einen Menschen kaum noch durchschaubar sind. Hier ist KI eine notwendige Unterstützung, ohne die jeder Mensch überfordert wäre und nicht in der Lage wäre, sinnvolle Entscheidungen zu treffen.
Wenn wir über Prozesse in der Chemieindustrie sprechen, ist der Spielraum für Maschinen groß, aber nicht immer zwingend. Glauben Sie, das System Maschine kann den Menschen ersetzen?
Ein solches Ziel wäre schon ein falscher Weg. Ein Toyota-Manager hat einmal darauf hingewiesen, dass eine automatisierte Fabrikhalle ohne Menschen vielleicht zehn Jahre fehlerfrei produzieren kann. Aber sie wird sich in dieser Zeit nicht weiterentwickeln. Das ist der springende Punkt. Wir sollten Maschinen und KI dort einsetzen, wo Technik etwas besser kann oder die Arbeitenden unterstützt. Alles andere ist letztlich in gewisser Weise sinnlos, denn es ist ja nicht so, dass Maschinen oder KI wartungsfrei sind. Dazu benötigen wir weiterhin viele gut ausgebildete Ingenieure und Softwareentwickler. Keine Technologie ist ein Selbstläufer. Aber es werden sich Jobs verändern. Sicher werden Arbeiten überflüssig, aber die Menschen werden trotzdem noch gebraucht, nur an anderer Stelle. Kein Unternehmen kann es sich aktuell leisten, arbeitswillige Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter zu entlassen. Der Anteil an Menschen in Lohn und Brot ist in Deutschland aktuell so hoch wie nie.
Wie können Unternehmen aus der Chemiebranche sich dieser Produktion für die Zukunft öffnen?
Wer sich der Entwicklung verweigert, wird irgendwann verschwinden. Da arbeitet der Markt sehr einfach. Wir alle kennen die Schicksale von Kodak oder Loewe. Die Digitalisierung hat sie überrollt, weil sie nicht schnell genug ‚mitgemacht‘ haben. Auch die Generation Z arbeitet heute anders als wir vor 30 Jahren. Dem muss man sich anpassen. Das ist letztlich ein Mindset. Management funktioniert heute anders, Maschinen und Technologien auch. Industrie 4.0 hat alle Lebensbereiche erfasst. Kein Bereich wurde ausgelassen. Es gibt viele Angebote, wohin sich KMU wenden können, beispielsweise die Mittelstand-Digital-Zentren, die es bundesweit gibt. Auch unsere Kollegen und Kolleginnen arbeiten dort als KI-Experten und unterstützen KMU bei der Digitalisierung.
Auch wir als SmartFactory KL bieten in einem bestimmten Maß Support an. Besonders zielführend ist aber eine Mitgliedschaft bei uns, denn wir entwickeln im vorwettbewerblichen Raum die Produktion von morgen. Bei uns arbeiten Unternehmen auf Augenhöhe zusammen, weil alle im Kern sehr ähnliche Fragen haben, egal aus welcher Branche sie kommen. Dabei werden sie von unseren wissenschaftlichen Mitarbeitenden unterstützt. Was wir in der SmartFactory KL heute entwickeln, ist immer nur eine Idee, wie die Produktion in fünf oder 15 Jahren aussehen kann. Die Adaption müssen die Unternehmen selbst übernehmen. Aber es ist eine Frage der Planung, ob ich heute schon an morgen denke oder nur die nächsten sechs Monate und die nächste Bonuszahlung im Blick habe – oder einen langfristigen Bestand des Unternehmens. Da hat leider an vielen Stellen ein Kulturwandel stattgefunden, der unserem Land nicht guttut.
Welche Verantwortung tragen Führungskräfte in KI-unterstützten Unternehmen und welche Rolle spielt das Thema Fachkräftemangel?
KI und Automatisierung können dazu beitragen, den Fachkräftemangel abzufedern, aber sie werden ihn nicht kompensieren können. Wir brauchen den Wirtschaftsweisen zufolge rund 1,5 Millionen Zuwanderer pro Jahr, um den Status quo zu erhalten. Dem läuft die Abwehr Arbeitswilliger entgegen. Auch hier ist wieder langfristiges und ganzheitliches Denken nötig. Allein in der Metallindustrie werden in den nächsten Jahren 700.000 Mitarbeitende fehlen. Um IT-Spezialisten zu finden, werden aktuell Kooperationsvereinbarungen mit afrikanischen Ländern abgeschlossen. Da sind auch wieder die Führungskräfte gefordert, die hier klare Worte an ihre Leute richten und deutlich sagen müssen, welche Konsequenzen es hat, wenn langfristig die Kolleginnen und Kollegen ausgehen: Wir werden nämlich nicht mehr so leben können wie bisher. Das ist ganz einfach.
Beim Thema KI ist es nicht anders. Hier müssen Managerinnen und Manager klare Worte finden: Wenn sich die Belegschaft neuer Methoden und Technologien verweigert, dann ist ein Unternehmen eventuell nicht überlebensfähig. Das gilt für KI genauso wie für andere Neuerungen. Leider haben hier die Medien oft seltsame Bedrohungsszenarien gezeichnet, die Führungskräfte nun wieder geradebiegen müssen. Aber das ist ihr Job und es braucht dazu viel Kommunikation! Ohne die Akzeptanz der Mitarbeitenden wird keine neue Methode je die erwarteten Früchte tragen.
Sie haben mit derSmartFactory KL einen Verein gegründet, der eine Vision hat: Es soll ein Netzwerk entstehen, in dem Firmen zusammenarbeiten. Was ist das Ziel?
Unser Ziel ist die Entwicklung der Produktion der Zukunft. Dazu verknüpfen wir Wissenschaft und industrielle Praxis, indem wir beispielsweise Arbeitsgruppen zu bestimmten Themen anbieten. Unternehmen können von dieser Zusammenarbeit erheblich profitieren, weil der gleichberechtigte Austausch zwischen Expertinnen und Experten aus Forschung und Industrie ausschließlich sachorientiert ist, ungetrübt von Gewinnerwartungen oder KPI. Wir schauen uns Unternehmen sehr genau an und testen ihre Bereitschaft, ob sie zu uns passen und auch wirklich mitarbeiten wollen. Dazu müssen enthusiastische Mitarbeiter oder Mitarbeiterinnen in den Unternehmen gefunden werden, die auch die Zeit bekommen, sich bei uns einzubringen. Viele Mitgliedsunternehmen nutzen unser Demonstrator-Ökosystem auch, um eigene Technologien auf ihre Zukunftsfähigkeit zu testen. Gerade hier ist das Feedback oder die Zusammenarbeit der anderen Ingenieurkolleginnen und -kollegen sehr wertvoll.
Zahlen und Fakten
Im Juni 2020
hat das US-Softwareunternehmen OpenAI auf Basis riesiger Datenmengen, enormem Einsatz von Entwicklerressourcen, viel Geld und Rechenkapazität ein Sprachmodell vorgestellt, das eine bis dahin unerreichte Performance aufwies. Dies hob der Präsident des KI-Bundesverbands Jörg Bienertin seinem Grußwort anlässlich der 2023 veröffentlichten Machbarkeitsstudie LEAM (Large European AI Models) hervor, die im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz erstellt wurde. GPT-3 (Generative Pre-trained Transformer 3) ist ein Tool zur Sprachgenerierung, das bei Bedarf menschenähnlichen Text erstellen kann und private Nutzer sowie Unternehmen mit dem im November 2022 veröffentlichten Chatbot ChatGPT unterstützt.
Rund 31,2
Milliarden US-Dollar Umsatz aus Unternehmensanwendungen im Bereich der Künstlichen Intelligenz (KI) werden für das Jahr 2025 weltweit prognostiziert, meldet die deutsche Onlineplattform für Statistik Statista. Das Thema Robotik bestätigt seinen Einsatz im industriellen Bereich: Weltweit wurden im Jahr 2022 circa 3,9 Millionen Roboter eingesetzt. Spitzenreiter Südkorea verzeichnete im Berichtsjahr 932 Roboter auf 10.000 Mitarbeiter im Produzierenden Gewerbe.
Drei Billiarden
Rechenoperationen kann der Supercomputer Quriosity des Chemiekonzerns BASF pro Sekunde durchführen, was einer Rechenleistung von rund 20.000 Notebooks entspricht. Mit drei Petaflops ist der Computer deutlich leistungsfähiger als sein Vorgänger mit 1,75 Petaflops – ein Petaflop entspricht einer Billiarde Rechenoperationen pro Sekunde. Quriosity ist der weltweit größte Supercomputer, der in der industriellen chemischen Forschung eingesetzt wird und zum Beispiel Material- und Systemeigenschaften chemischer Verbindungen simuliert.
Datenraum Industrie 4.0
beschreibt einen virtuellen Datenraum, der die Wertschöpfung in der industriellen Fertigung und Produktion transparent gestalten und damit beschleunigen soll. Dieses Netzwerk basiert auf Geschäftsbeziehungen zwischen Organisationen in einem Produktionsökosystem. Interessengruppen aus Bereichen wie Erstausrüster, Lieferanten oder Dienstleister treffen aufeinander und kooperieren über verschiedene Regionen, Märkte sowie zunehmend Branchen hinweg und hinterlegen ihre Produktionsdaten. Dieser kooperative Datenaustausch soll aktuelle Geschäftsprozesse optimieren, aber auch Grundlagen für die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle schaffen. Davon profitieren bestehende Unternehmen und aufstrebende Start-ups, betont das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie in seinem Positionspapier „Plattform Industrie 4.0“ aus dem April 2021.
Manufacturing X
ist eine Initiative des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz zur Digitalisierung der Lieferketten in der Industrie. „Daten sind ein Wert, der durch Austausch und gemeinsame Nutzung innerhalb künstlich agierender Methoden erhöht werden kann“, erklärt der Pressesprecher der Technologie-Initiative SmartFactory KL in Kaiserlautern Dr. Ingo Herbst in einem Artikel auf LinkedIn. „Jede weitere Arbeit mit Daten potenziert ihren Wert weiter.“ Nachhaltige Wertschöpfungsnetzwerke sollen für eine intelligent vernetze Industrie gebildet werden, neue Geschäftsmodelle für eine nachhaltige Wirtschaft am Beispiel der geschlossenen Kreislaufwirtschaft geschaffen und die Transparenz über den CO₂-Fußabdruck ermöglicht werden. Firmen veröffentlichen hier Daten und bieten anderen Unternehmen die Nutzung ihrer Maschinen oder Produktionsmöglichkeiten an.
74 Prozent
der Führungskräfte glauben daran, dass die Vorteile der generativen KI die mit ihr verbundenen Risiken überwiegen. Dies hat das Beratungsunternehmen Capgemini in seiner weltweiten Studie „Harnessing the Value of Generative AI“ herausgefunden. Mit 84 Prozent am stärksten überzeugt sind Führungskräfte aus der Hightechbranche. Der Pharma- und Gesundheitssektor verzeichnet 80 Prozent, die Verarbeitende Industrie 77 Prozent. Selbst am unteren Ende der Liste setzen ganze 69 Prozent der Führungskräfte aus der Energie- und Versorgungsbranche sowie der Telekommunikationsbranche auf generative KI. Mit 66 Prozent den geringsten verzeichnen Entscheiderinnen und Entscheider aus der Automobilbranche.