Generation Zukunft
Appell für eine Renaissance der MINT-Fächer
Von Klaus Bernhard Hofmann und Simone Leuschner
Die moderne Gesellschaft steht vor zahlreichen Herausforderungen, die durch den schnellen technologischen Fortschritt und die zunehmende Globalisierung geprägt sind. In diesem Kontext wird die Förderung der sogenannten MINT-Fächer – Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik – immer wichtiger. Die Popularisierung dieser Disziplinen, die Verbesserung ihrer gesellschaftlichen Akzeptanz und die Förderung des Dialogs zwischen Natur- und Geisteswissenschaften sind zentrale Anliegen, auch für den VAA. Ein zusätzliches Ziel ist es, mehr Mädchen und Frauen für MINT-Fächer und -Berufe zu gewinnen. Zwar hat es auf dem Gebiet der Naturwissenschaften in den letzten Jahren große Fortschritte gegeben, doch ist der Frauenanteil auch in den Ingenieurberufen nach wie vor zu gering.
Für die Wirtschaft und die Gesellschaft in Deutschland – und besonders für die Chemie – haben die MINT-Fächer eine immense Bedeutung. Strategien für eine höhere Sichtbarkeit und Akzeptanz dieser Fächer sind daher dringend nötig.
Großer Bedarf an MINT-Fachkräften
Die deutsche Wirtschaft steht vor einem akuten Mangel an MINT-Fachkräften auf allen Ebenen. Dieser Fachkräftemangel betrifft nicht nur hochqualifizierte Expertinnen und Experten mit Studienabschlüssen, sondern auch dual ausgebildete Fachkräfte sowie Spezialistinnen und Spezialisten wie Meister und Techniker. Der Bedarf an qualifizierten MINT-Fachkräften ist immens und von entscheidender Bedeutung für die Innovationskraft und Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands.
Dual ausgebildete Fachkräfte bilden das Rückgrat der deutschen Industrie. Sie verfügen über eine praxisnahe Ausbildung und sind in der Lage, komplexe technische Aufgaben zu bewältigen. Der Mangel an gut ausgebildeten Facharbeiterinnen und Facharbeitern in den MINT-Bereichen führt zu Engpässen in der Produktion und kann die Innovationsfähigkeit der Unternehmen beeinträchtigen. Es ist daher notwendig, mehr junge Menschen für eine duale Ausbildung in den MINT-Berufen zu gewinnen und die Attraktivität dieser Karrierewege zu erhöhen.
Spezialistinnen und Spezialisten wie Meister und Techniker sind unverzichtbar für die industrielle Fertigung und den technischen Betrieb. Sie verfügen über vertieftes Wissen und Erfahrung, die es ihnen ermöglichen, Führungsaufgaben zu übernehmen und innovative Lösungen zu entwickeln. Auch in diesem Bereich gibt es einen signifikanten Fachkräftemangel. Es ist daher wichtig, Weiterbildungsprogramme und Aufstiegsfortbildungen zu fördern, um mehr Fachkräfte zu qualifizieren und ihre Karrierechancen zu verbessern.
Hochqualifizierte Expertinnen und Experten mit Studienabschlüssen sind die treibende Kraft hinter Forschung und Entwicklung. Sie entwickeln neue Technologien, treiben Innovationen voran und tragen wesentlich zur Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft bei. Der Mangel an spezialisierten MINT-Absolventen kann die Innovationskraft Deutschlands erheblich beeinträchtigen. Es ist daher unerlässlich, die Hochschulbildung in den MINT-Fächern zu stärken und mehr junge Menschen für ein Studium in diesen Bereichen zu begeistern.
Chemische Industrie braucht MINT
Die chemisch-pharmazeutische Industrie in Deutschland ist ein zentraler Pfeiler der Wirtschaft und Innovation. Sie trägt maßgeblich zur Herstellung von Produkten bei, die in vielen anderen Industriezweigen benötigt werden, und spielt eine wichtige Rolle in der Entwicklung neuer Technologien, die zur Lösung globaler Herausforderungen wie dem Klimawandel und der Gesundheitsversorgung beitragen.
Die Chemie- und Pharmaindustrie benötigt dringend qualifizierte MINT-Fachkräfte auf allen Ebenen, um wettbewerbsfähig zu bleiben und ihre Innovationsfähigkeit zu sichern. Dies umfasst dual ausgebildete Fachkräfte, die in der Produktion und im technischen Service arbeiten, Spezialisten wie Meister und Techniker, die Produktionsprozesse überwachen und optimieren, sowie hochqualifizierte Experten mit Studienabschlüssen, die in Forschung und Entwicklung tätig sind.
Die Chemie steht vor der Herausforderung, nachhaltige und umweltfreundliche Technologien zu entwickeln. Dies erfordert ein hohes Maß an Fachwissen und Expertise in den MINT-Fächern. Ingenieurinnen und Ingenieure, Chemikerinnen und Chemiker sowie Materialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler spielen eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung neuer Prozesse und Produkte, die den ökologischen Fußabdruck der Industrie verringern und gleichzeitig wirtschaftlich tragfähig sind.
Um im globalen Wettbewerb bestehen zu können, muss die chemisch-pharmazeutische Industrie in Deutschland kontinuierlich innovativ sein und hochwertige Produkte herstellen. Dies setzt eine stabile Versorgung mit gut ausgebildeten MINT-Fachkräften voraus. Der Fachkräftemangel kann zu Produktionsengpässen und einer Verlangsamung des Innovationszyklus führen, was die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen chemischen Industrie gefährdet.
Die Branche muss eng mit Bildungseinrichtungen zusammenarbeiten, um sicherzustellen, dass die Ausbildungs- und Studiengänge den Anforderungen der modernen Industrie entsprechen. Praktika, duale Studiengänge und Kooperationsprojekte zwischen Unternehmen und Hochschulen können dazu beitragen, dass die Studierenden praxisnah ausgebildet werden und besser auf die Herausforderungen der Arbeitswelt vorbereitet sind.
Popularisierung von MINT und Chemie
Ein erster Schritt zur Renaissance der MINT-Fächer ist ihre Popularisierung. Chemie als Teil der MINT-Disziplinen spielt eine zentrale Rolle in vielen Aspekten des täglichen Lebens, von der Medizin über Umwelttechnologien bis hin zu alltäglichen Produkten wie Kunststoffen und Reinigungsmitteln. Dennoch wird die Bedeutung dieser Wissenschaften oft unterschätzt oder missverstanden.
Die Popularisierung der Chemie und anderer MINT-Fächer kann durch gezielte Bildungsinitiativen und Öffentlichkeitsarbeit erfolgen. Schulen, Universitäten und wissenschaftliche Institutionen sollten Programme entwickeln, die den praktischen Nutzen dieser Fächer verdeutlichen. Beispielsweise könnten Experimente und Projekte gefördert werden, die direkte Anwendungen im Alltag zeigen, wie die Entwicklung umweltfreundlicher Materialien oder die Analyse von Wasserproben zur Sicherstellung der Trinkwasserqualität.
Öffentliche Veranstaltungen wie Wissenschaftsmessen, Vorträge und interaktive Workshops können ebenfalls dazu beitragen, das Interesse an den MINT-Fächern zu wecken und zu vertiefen. Diese Veranstaltungen sollten nicht nur Schüler, sondern auch ihre Eltern und die breite Öffentlichkeit ansprechen.
Gesellschaftliche Akzeptanz verbessern
Ein wichtiges Ziel ist die Verbesserung der gesellschaftlichen Akzeptanz der Chemie. Historisch gesehen haben chemische Prozesse und die Industrie oft einen schlechten Ruf, was auf Umweltverschmutzung und Sicherheitsvorfälle zurückzuführen ist. Doch die Chemie hat auch viele positive Auswirkungen, die oft im Schatten dieser negativen Wahrnehmungen stehen.
Die Verbesserung der gesellschaftlichen Akzeptanz kann durch transparente und offene Kommunikation erreicht werden. Chemische Unternehmen und Forschungseinrichtungen sollten proaktiv über ihre Aktivitäten informieren, insbesondere über Maßnahmen zur Reduktion von Umweltauswirkungen und zur Verbesserung der Sicherheit. Erfolgreiche Projekte und Innovationen sollten hervorgehoben und deren positive Auswirkungen auf Umwelt und Gesellschaft betont werden.
Ein weiteres Mittel zur Verbesserung der Akzeptanz ist die Einbindung der Öffentlichkeit in Entscheidungsprozesse. Bürgerforen und Beteiligungsverfahren können helfen, Bedenken und Wünsche der Bevölkerung frühzeitig zu berücksichtigen und in die Entwicklung neuer Technologien einzubeziehen. Dies schafft Vertrauen und zeigt, dass die Chemiebranche bereit ist, Verantwortung zu übernehmen und nachhaltig zu handeln.
VAA bezieht Position
Eine entscheidende Rolle bei der Förderung der Chemie und anderer MINT-Fächer spielt auch der Fach- und Führungskräfteverband Chemie VAA. Eine stärkere Positionierung des VAA, sowohl intern als auch extern, ist daher von großer Bedeutung für die angestrebte Renaissance der MINT-Fächer in der Gesellschaft. Social Media können dabei als wichtiges Instrument dienen, um eine breitere und jüngere Zielgruppe zu erreichen.
Der VAA plant deshalb, gezielt Social-Media-Plattformen nutzen, um seine Botschaften zu verbreiten und mit der jungen Generation in Kontakt zu treten. Durch regelmäßige Posts, Videos und interaktive Inhalte können wichtige Themen wie die Bedeutung der Chemie, aktuelle Forschungsergebnisse und Karrieremöglichkeiten im MINT-Bereich vermittelt werden. Auch die Organisation von Onlineseminaren bietet eine gute Möglichkeit, Wissen zu teilen und Diskussionen zu fördern.
Netzwerkaufbau und Zusammenarbeit
Ein starkes Netzwerk ist unerlässlich für die Förderung der MINT-Fächer. Der Aufbau eines Netzwerks junger Autorinnen und Autoren sowie die Zusammenarbeit mit Interessengruppen wie den Preisträgerinnen und Preisträgern des Exzellenzpreises der VAA Stiftung, Preisträgerinnen und Preisträgern der Gesellschaft Deutscher Chemiker (GDCh) und Organisationen wie Femtec.Alumnae (FTA) sind entscheidende Schritte. Ebenso ist der kontinuierliche Austausch mit dem Verband der Chemischen Industrie (VCI) und dem Institut der deutschen Wirtschaft (IW) für die Förderung der MINT-Fächer in Industrie und Wirtschaft von großer Bedeutung.
Netzwerke können Plattformen schaffen, auf denen junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre Ideen und Forschungsergebnisse präsentieren und diskutieren können. Sie bieten auch Möglichkeiten zur Zusammenarbeit und zum Austausch von Erfahrungen und Best-Practice-Beispielen. Besonders wichtig ist die Einbindung von Netzwerken wie dem FTA, die sich auf Frauen in den MINT-Fächern konzentrieren, um die Geschlechtervielfalt in diesen Bereichen zu fördern.
Stille Fortschritte der MINT-Fächer
Warum ist es so wichtig, immer wieder auf die Bedeutung der MINT-Fächer hinzuweisen? MINT-Fächer treiben den technologischen und wissenschaftlichen Fortschritt oft im Hintergrund voran. Während lautstarke gesellschaftspolitische Diskussionen die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, werden die stillen Fortschritte in den MINT-Disziplinen häufig übersehen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sie weniger wichtig sind. Im Gegenteil: Ihre Beiträge sind oft entscheidend für den Fortschritt und das Wohlstandsniveau der Gesellschaft.
Es ist wichtig, diese stillen Fortschritte sichtbar zu machen und ihre Bedeutung zu kommunizieren. Dies kann durch Erfolgsgeschichten und Fallstudien geschehen, die zeigen, wie MINT-Fächer konkrete Probleme lösen und das Leben der Menschen verbessern. Auch hier spielen Medien und Öffentlichkeitsarbeit eine zentrale Rolle.
VAA-Jahrbuch 2024 zum Thema MINT
In der diesjährigen Ausgabe der Publikationsreihe „VAA-Jahrbuch“ werden rund 30 Autorinnen und Autoren der jüngeren Generation zu Wort kommen, um über ihren Ausbildungs- und beruflichen Lebensweg zu berichten. Ausgangspunkt für die Schwerpunktsetzung der kommenden Ausgabe war die Überlegung, dass die MINT-Fachbereiche den zentralen wirtschaftlichen Innovationssektor bilden. Aber trotz ihres großen Nutzens für die Volkswirtschaft entspricht ihre Wahrnehmung in der Gesellschaft nicht der ihrer immensen naturwissenschaftlichen und technischen Bedeutung. Gerade in der Chemie klaffen industrielle und gesellschaftliche Bedeutung und positive Wahrnehmung in der Öffentlichkeit noch immer auseinander. Nichts überzeugt mehr als die persönliche Motivation für einen Weg, der häufig genug auch mehrsprachig und grenzüberschreitend gegangen wird.
Daher werden die Autorinnen und Autoren in einem persönlichen Bericht schildern, warum sie sich für eine Ausbildung, ein Studium oder einen Beruf auf dem Gebiet der MINT-Fächer entschieden haben. Sie werden darlegen, wer oder was diese Entscheidung für ihr Fach ausgelöst hat und was ihnen persönlich ihr MINT-Fach gebracht hat. Besonders interessant werden die Ausführungen zur Frage sein, warum ihr jeweiliges Fach und ihre Arbeiten zum Fortschritt der Gesellschaft beitragen und wie man die Attraktivität und gesellschaftliche Relevanz ihres Fachs anderen jungen Menschen vermitteln kann.
Zukunft nur mit MINT-Fächern
Im Idealfall tragen persönliche Schilderung und Begründung für ein MINT-Fach im VAA-Jahrbuch dazu bei, den Dialog zwischen MINT-Fächern und Geisteswissenschaften zu verbessern. An diesem Dialog der zwei Kulturen haben sich schon viele Wissenschaftler und Künstler versucht. Nichtsdestotrotz sind sich diese beiden Welten fremd geblieben. Das ist bedauerlich, denn es besteht Hoffnung, dass über ein verbessertes gegenseitiges Verständnis eine gemeinschaftsstiftende Erzählung entstehen kann. Eine Erzählung, die verdeutlicht, wie entscheidend die MINT-Fächer nicht nur für eine florierende Wirtschaft, sondern für das Wohlergehen der ganzen Gesellschaft sind. Dies wird umso bedeutender, je individualisierter und diverser diese Gesellschaft wird. Eine solche Erzählung sollte emotional und empathisch wirken, um eine breite Akzeptanz und Unterstützung zu gewinnen.
Mehr Mädchen und Frauen gewinnen
Ein zentraler Punkt bei der Förderung der MINT-Fächer ist die Gewinnung von mehr Mädchen und Frauen. Trotz einiger Fortschritte in den letzten Jahren sind Frauen in vielen MINT-Bereichen immer noch unterrepräsentiert. Es gibt verschiedene Ansätze, um dieses Ungleichgewicht zu beheben und Mädchen und Frauen für MINT-Berufe zu begeistern: So sollte die Begeisterung für MINT-Fächer bereits im frühen Kindesalter geweckt werden. Grundschulen könnten spezielle Programme und Projekte anbieten, die Mädchen gezielt ansprechen und sie ermutigen, sich mit MINT-Themen zu beschäftigen. Hierbei spielen weibliche Vorbilder eine wichtige Rolle. Frauen, die erfolgreich in MINT-Berufen arbeiten, sollten ihre Geschichten erzählen und als Mentorinnen fungieren, um jungen Mädchen zu zeigen, dass auch sie in diesen Bereichen erfolgreich sein können.
Schulen und Universitäten sollten darauf achten, dass Mädchen und junge Frauen gleiche Chancen und Ermutigung erhalten, MINT-Fächer zu studieren. Dies könnte durch Stipendien, spezielle Förderprogramme und geschlechtsspezifische Betreuung erfolgen. Lehrer und Dozenten sollten zudem für unbewusste Vorurteile sensibilisiert werden, um sicherzustellen, dass Mädchen in MINT-Fächern genauso gefördert werden wie Jungen.
Last but not least sind attraktive Berufsbilder und Karrierewege wichtig. Unternehmen und Institutionen sollten daran arbeiten, MINT-Berufe für Frauen attraktiver zu machen. Flexible Arbeitszeiten, familienfreundliche Arbeitsbedingungen und klare Karrierewege sind dabei entscheidend. Mentoringprogramme und Netzwerke wie VAA connect können Frauen unterstützen und ihnen helfen, sich in diesen Bereichen zu etablieren.
Für die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft und der Wirtschaft ist die Förderung der MINT-Fächer ein zentrales Anliegen. Durch gezielte Bildungsinitiativen, die Verbesserung der gesellschaftlichen Akzeptanz der Chemie, eine starke Positionierung des VAA und den Aufbau internationaler Netzwerke kann eine Renaissance der MINT-Fächer erreicht werden. Dabei ist es essenziell, den dringenden Bedarf der deutschen Wirtschaft und insbesondere der chemischen Industrie an MINT-Fachkräften auf allen Ebenen zu adressieren. Nur durch eine breite und integrative Förderung der MINT-Fächer lassen sich die Herausforderungen der Zukunft meistern und eine ebenso nachhaltige wie innovative Gesellschaft gestalten.
Positionspapier zu MINT-Fachkräften
Auf Initiative der Fachsektion Bildung und Innovation der DECHEMA legen die Gesellschaft Deutscher Chemiker (GDCh), die Gesellschaft für Biochemie und Molekularbiologie und der VAA ein Positionspapier zum Thema MINT-Fachkräfte vor, das Wirtschaft, Wissenschaft und Politik zum gemeinsamen Handeln aufruft, um den MINT-Fachkräftemangel zu bekämpfen. Gefordert werden wirksame Maßnahmen zur Förderung von Schülerinnen und Schülern in MINT-Fächern, unter anderem ausreichender Unterricht und mehr außerschulische Angebote, eine höhere Attraktivität des Schuldiensts für MINT-Lehrkräfte, wozu finanzielle Anreize, Honorierung von individuellem Engagement sowie Karrierechancen und Weiterbildungsmöglichkeiten gehören, Verbesserungen von MINT-Ausbildung und MINT-Studium. Dazu gehören beispielsweise der Abbau von Stereotypen und Barrieren, eine ausreichende Betreuung zur Senkung der Studienabbrecherquoten, eine erleichterte qualifizierte Zuwanderung sowie die koordinierte und nachhaltige Unterstützung der vielfältigen Initiativen und Programme zur Förderung der MINT-Fächer. Am 12. Juni 2024 wird das Papier auf der ACHEMA in Frankfurt vorgestellt.
Interview mit Dr. Doris Schmidt
Dr. Doris Schmidt ist Verwaltungsprofessorin an der Fakultät Elektro- und Informationstechnik der Hochschule Hannover. Die 62-Jährige „Anpackerin“ engagiert sich seit vielen Jahren für die Förderung von MINT-Fächern und hat unter anderem das Projekthaus Zukunft MINT aufgebaut.
VAA Magazin: Ihr Werdegang liest sich sehr interessant. Welches Fach haben Sie eigentlich studiert und wie zufrieden sind Sie mit Ihrer Wahl?
Schmidt: Ich bin 62 Jahre alt, nach wie vor neugierig und eine Anpackerin. Geht nicht, gibt‘s nicht. Ich habe Biologie studiert – das ist ein komplexes und hoch spannendes Fach, das alle naturwissenschaftlichen Felder zusammenführt. Das Studium hat meine Erwartungen voll erfüllt, die Promotionszeit war bereichernd. Leider wurde meine Wissenschaftskarriere durch die Familienzeit – zwei Kinder – gestoppt. Die anschließende Selbstständigkeit – Fortbildungen für Lehrkräfte und Erzieherinnen und Erzieher zum Thema MINT praktisch vermitteln – hat mich motiviert, weiter in das Thema „MINT für Kinder und Jugendliche interessant zu gestalten und ihre Neugier nachhaltig zu fördern“ einzutauchen. So habe ich zum Glück an der Hochschule Hannover die Möglichkeit bekommen, das Projekthaus Zukunft MINT aufzubauen, in dem wir MINT-Praxis für Schulklassen und frühe Berufsorientierung in MINT großschreiben.
Mein Anliegen ist es, Jugendlichen unabhängig von Elternhaus und Bildungsstand MINT näherzubringen. Daher bieten wir primär Workshops für ganze Schulklassen schulformunabhängig an. Zudem haben ich das naturwissenschaftlich-technische Orientierungssemester StudyMINT initiiert, einmalig in Niedersachsen. Besonders liegt mir die Förderung von Mädchen und Frauen am Herzen. Daher liegt ein Fokus unserer Angebote auf Gendersensibilität in den Veranstaltungen. Wir möchten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer da abholen, wo ihr persönliches MINT-Interesse liegt, oft mit der persönlichen Lebenswelt verknüpft. Dieser Aufgabenbereich macht, unterstützt von einem hervorragenden Team, sehr viel Freude.
War Ihr persönliches Interesse ausschlaggebend bei der Auswahl des Studienfachs oder eher die aussichtsreichen Berufsperspektiven in einer bis heute sicheren Branche?
Ich habe mich ausschließlich von persönlichen Interessen leiten lassen. Zufriedenheit im Job und Spaß an den Dingen, für die ich mich engagiere, sind deutlich wichtiger als gute Bezahlung.
Was könnte „Erstis“ bei der Wahl eines MINT-Studiengangs motivieren?
Es muss eine persönliche Betroffenheit hergestellt werden. Die Studienfächer müssen Lösungsmöglichkeiten für die Herausforderungen der Zukunft und die persönlichen Anliegen und deren Verknüpfung mit Studieninhalten für die Studieninteressierten in den Vordergrund stellen.
Wo sehen Sie die Chancen und die Verantwortung von MINT-Studiengängen, wenn Sie an die Jobs der Zukunft denken?
Alle Herausforderungen der Zukunft haben mit MINT zu tun. Es gibt hervorragende Berufsaussichten. Der verantwortliche Umgang mit Ressourcen und die Nachhaltigkeit per se sind die größten Herausforderungen und gleichzeitig liegen diese in der Verantwortung der zukünftigen Studiengeneration. Es geht zukünftig nicht mehr um „höher, schneller, weiter“, sondern um nachhaltige Produktion, soziale Aspekte in der Arbeit, Recycelbarkeit und verantwortungsvollen Umgang mit der Natur.
MINT-Fächer gelten als wichtiges Fundament einiger Berufe, gerade das Informatikstudium bietet viele Möglichkeiten. Sehen Sie MINT als entscheidende Schlüsselqualifikation für die Zukunft?
MINT und hier insbesondere das Basiswissen in Informatik, grafischem Programmieren und KI, ist aus meiner Sicht eine Schlüsselqualifikation. Egal in welchem Berufsfeld man später arbeitet, ob im Pflegebereich, Verwaltung oder technischem Umfeld, eine Grundidee zum Programmieren und ein Wissen darüber, wie KI funktioniert und an welcher Stelle man die Ergebnisse kritisch hinterfragen und interpretieren muss, sind von herausragender Bedeutung.
Ein strukturiertes Herangehen an Aufgaben mit einer guten Problemanalyse erleichtert jede Arbeit. Ein Studienabschluss in MINT ist Ausdruck der Kompetenz, sich eigenständig und lösungsorientiert mit einer Herausforderung zu befassen und die methodisch anzugehen.
Würden Sie heute noch einmal für den gleichen Studienweg und Werdegang entscheiden?
Sollte ich heute noch einmal die Wahl haben, würde ich mich wahrscheinlich für Ingenieurwissenschaften als Studienfach entscheiden. Die technischen Möglichkeiten und die Informatik, die zu meiner Studienzeit noch in den Kinderschuhen steckte, sind hochspannend.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft von Industrie, Politik und Gesellschaft?
Für die Zukunft wünsche ich mir bessere Unterstützung von der Politik, damit die Jugendlichen in ihrer Berufsorientierung begleitet werden können und nicht so lost mit einem Schulabschluss in der Tasche, aber ohne Zukunftsidee dastehen und ins Leben entlassen werden, auf das sie nicht gut vorbereitet sind. Derzeit werden ihnen alle möglichen Hindernisse auf ihrem Lebensweg aus dem Weg geräumt, das führt hin und wieder zu Handlungsunfähigkeit. Von den Eltern und der Gesellschaft wünsche ich mir daher, dass sie den Kindern und Jugendliche wieder etwas zutrauen und ihnen Verantwortung für ihr eigenes Leben in altersgerechtem Maße übertragen.
Zahlen und Fakten
34,6 Prozent der Unternehmen
sehen im MINT-Bereich einen steigenden Bedarf an IT-Expertinnen und IT-Experten, 27,6 Prozent an Ingenieurinnen und Ingenieuren und ganze 12,3 Prozent einen steigenden Bedarf an Hochschulabsolventinnen und -absolventen der Fachbereiche Mathematik und Naturwissenschaften. Das berichtet das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in seinem MINT-Frühjahrsreport 2024. Aus Sicht der Unternehmen in Deutschland seien für die Entwicklung klimafreundlicher Technologien und Produkte in den nächsten fünf Jahren MINT-Expertinnen und -Experten von besonders großer Bedeutung. Auf berufliche Qualifikationen bezogen erwarten 44,1 Prozent der Unternehmen einen steigenden Bedarf an MINT-Fachkräften. Bei großen Unternehmen, die für die Gesamtbeschäftigung eine Schlüsselrolle spielen, seien die Erwartungen für ein Beschäftigungswachstum laut IW sogar noch deutlich positiver.
489.000 neue Azubiverträge
sind im Jahr 2023 geschlossen worden, vermeldet das MINT-Nachwuchsbarometer. Der von der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften, der Joachim-Herz-Stiftung und dem Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik erstellte bundesweite Trendreport sammelt und kommentiert die wichtigsten Zahlen, Daten und Fakten zur Nachwuchssituation im MINT-Bereich. Auffällig ist: MINT-Ausbildungsberufe sind bei jungen Menschen durchaus beliebt – rund 34 Prozent entscheiden sich für eine MINT-Ausbildung. Falsche Erwartungen an die Ausbildung oder Überforderung werden als Ursache dafür vermutet, dass im Jahr 2022 rund 30 Prozent der Auszubildenden ihr Ausbildungsverhältnis allerdings vorzeitig auflösten. KI-gestützte Beratungssysteme sollen künftig jungen Menschen bei der Suche nach einem passenden Ausbildungsplatz helfen.
Warum MINT? In einem rasanten Tempo schreiten technologische Innovationen voran. Als Schlüssel zum Fortschritt sind MINT-Kompetenzen entscheidend. Anhand ihrer persönlichen Beispiele schildern fünf engagierte Menschen mit einem Hintergrund im MINT-Bereich ihre Sicht auf die Bedeutung der MINT-Fächer.
Marion Zielinski:
Ich arbeite im Projekthaus Zukunft MINT an der Hochschule Hannover. Ich habe im Bachelor Luft- und Raumfahrttechnik studiert und im Master Navigation und Umweltrobotik. Schon das Vorpraktikum im Bereich Maschinenbau, das für meinen Bachelorstudiengang obligatorisch war, hat mir großen Spaß gemacht. Das Studium im Bachelor war genau das, was ich machen wollte: Mathematik mit Technik verbinden und in der realen Welt zum Einsatz bringen. Meine Bachelorarbeit habe ich in einem Raumfahrtunternehmen geschrieben. Dort habe ich viel an einem optischen Experiment gearbeitet. Auch das war super spannend, weil es mir gezeigt hat, wie vielfältig Luft- und Raumfahrttechnik ist. Während des Bachelorstudiums hatte ich viel Freude am Programmieren, aber nur wenig Gelegenheit dazu. Meinen Masterstudiengang Navigation und Umweltrobotik habe ich dann so ausgewählt, dass ich meine Fähigkeiten im Programmieren erweitern und vertiefen konnte. Dieser Studiengang war ganz anders als mein Bachelor, aber nicht weniger spannend. Dort lernte ich, die Schnittstelle zwischen Hardware und Software herzustellen und Messwerte zu verarbeiten. Die praktische Arbeit mit den mobilen Robotern war dabei mein Highlight.
Jelde Jakob:*
„Nach meinem Abitur mit vor allem Prüfungsfächern aus dem MINT-Bereich wollte ich etwas in diesem Bereich studieren. Da ich sowohl Lehramt als auch Maschinenbau nicht studieren wollte, habe ich durch etwas Internetrecherche meinen Bachelorstudiengang Lebensmittelverpackungstechnologie gefunden. Zu dem Masterstudiengang Milch- und Verpackungswirtschaft bin ich durch meinen Bachelor gekommen. Ich glaube, kleinere Lerngruppen und ein persönlicheres Umfeld erleichtern den Einstieg und senken die Hemmungen, während der Vorlesungen Fragen zu stellen. Zudem könnten viele praktische Arbeiten und ein flexibel zu gestaltender Stundenplan Interessenten überzeugen. Eine Möglichkeit, die eigenen Interessen während des Studiums schon intensiver zu verfolgen, um damit ein individuelles Portfolio zu erschaffen, könnte ebenso motivieren wie die Tatsache, dass MINT-Fächer sehr zukunftsorientiert sind.“
*Auf eigenen Wunsch wurde kein Foto verwendet. Stattdessen ist zur Bebilderung von der Redaktion ein Symbolbild aus dem Bereich der Lebensmittelchemie eingesetzt worden.
Antje Wöhnke:
„Ich habe in Hannover Chemie studiert mit Promotion in Physikalischer Chemie, genau genommen Festkörperelektrochemie. Ich bin ein kreativer Mensch und sehr neugierig. Ich möchte immer gern verstehen, wie Dinge funktionieren und warum sie sind, wie sie sind. Die MINT-Kenntnisse haben mir sehr viele Ideen beschert, weil es Einblicke gibt in die Welt, die sonst nicht möglich wären. Ich bin Journalistin geworden und habe mich dem Wissenschaftsjournalismus zugewandt. Viele aktuelle Probleme, für die wir gerade nachhaltige Lösungen bräuchten, stehen an und wer soll das lösen, wenn in den Wissenschaften, auf die wir für diese Lösungen hoffen, die klugen Köpfe fehlen? Es geht darum, Dinge wirklich neu zu machen und neu zu denken und gerade die MINT-Fächer liefern das Rüstzeug dafür. Und die MINT-Studiengänge sollten ihre Chance nutzen und sich unter anderem als kommunikative, kreative Fächer verstehen.“
Michele Schack:
„Ich habe bereits seit der Kindheit Interesse an technischen Geräten gehabt, habe alte Radios und Computer auseinandergeschraubt und somit erste Erfahrungen mit den verschiedenen Komponenten gemacht. In der Schule war es für mich dann später recht klar, dass ich den naturwissenschaftlichen Zweig mit Leistungskursen Mathematik und Physik machen möchte. Über das Seminarfach kam themenbedingt noch der Bereich Klimawandel und Nachhaltigkeit dazu, sodass ich nach dem Abitur Interesse an einer Kombination dieser Punkte hatte und dann im Bachelorstudiengang Umwelt- und Energieprozesstechnik gelandet bin. Dies kombinierte die Verfahrenstechnik, mit welcher viele Prozesse verständlich werden mit den Bereichen Nachhaltigkeit und Erneuerbaren Energien. Die Lust am Studium und hinterher am Beruf sollte die wichtigste Motivation sein. Gerade im MINT-Bereich fängt man an, viele Sachen besser zu verstehen, und kann recht komplexe technische Prozesse anderen verständlicher machen. Da sich die Welt unfassbar schnell verändert, wird es immer die Möglichkeit geben, sich auch selbst weiterzuentwickeln und somit auch eigene Ideen einzubringen.“
Lena Willig:
„Ich studiere Elektro- und Informationstechnik an der Hochschule Hannover. Nach dem Abitur habe ich zunächst eine Berufsausbildung als Elektronikerin für Geräte und Systeme absolviert. Mir ist der Umweltschutz sehr wichtig und genau da sehe ich auch die Chancen und die Verantwortung der MINT-Berufe. Wir sind in der Lage, Erneuerbare Energien voranzubringen, Mobilität neu zu erfinden und smarte und nachhaltige Technik zu entwickeln. Die MINT-Branche bietet so viele Möglichkeiten, unsere Zukunft mitzugestalten. Wir müssen nur darauf achten, dass dieser Fortschritt nicht auf Kosten der Umwelt oder auf Kosten anderer Menschen stattfindet.“