New Work: Führung in Chemie und Pharma
Hybride Arbeitswelt braucht neue Führungskonzepte
Von Dr. Josephine Hofmann
Wie gestaltet sich gute Führung im New-Work-Zeitalter? Wie sieht die Lebensrealität der Fach- und Führungskräfte in der chemisch-pharmazeutischen Industrie aus und welche Handlungsansätze für die Zukunft sind zu empfehlen? Diese Themen werden im abschließenden Teil der Spezial-Trilogie rund um New Work im VAA Magazin erörtert.
Die Pandemie hat unseren privaten wie beruflichen Alltag stark verändert. Langfristig werden hybride Arbeitskonzepte mit einem selbstverständlichen Mix von Arbeitsanteilen inner- und außerhalb des Unternehmens bestehen bleiben. Sehr viele Entscheidungsträgerinnen und -träger haben verstanden, welche Flexibilitäts-, Vereinbarkeits-, Nachhaltigkeits- und auch Produktivitätspotenziale hierdurch nutzbar sind. Hybride Arbeitsformen haben sich damit vom „Wohlfühlthema“ für ausgewählte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu einem belastbaren Faktor betrieblicher Organisations- und Prozessplanung weiterentwickelt. Zudem hat die Krise wie ein Digitalisierungsbeschleuniger gewirkt und Beschäftigte wie Führungskräfte sowie die Unternehmensleitungen von der vitalen Bedeutung der Digitalisierung und der hierfür erforderlichen Kompetenzen und Arbeitskultur überzeugt.
Auch vor diesem Hintergrund ist die weiterführende Frage naheliegend, inwieweit die erwartbaren Arbeitsformen in ihrem Mix aus Präsenz und Virtualität zu veränderten Anforderungen an die tägliche Führungsarbeit führen und welche Unterstützungsangebote für diesen Personenkreis daher sinnvoll wären. Deshalb hat der VAA das Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO mit einer verbandsweiten Befragung aller Mitglieder beauftragt. Sie wurde im März 2022 durchgeführt – mehr als 1.000 Personen haben sich beteiligt. Die im folgenden dargestellten Ergebnisse bieten damit einen topaktuellen Überblick über die Erfahrungen dieser Personengruppe bei der Ausübung von Führungsaufgaben sowie den Umsetzungsstand von New-Work-Aktivitäten und deren Wirkung in den Unternehmen. Nicht zuletzt gibt sie auch Aufschluss über die Unterstützungsbedarfe dieser Personen und mögliche Ansatzpunkte für den VAA, hier wirksam zu werden.
Die Diskussion um veränderte Formen und Rollenbilder der Führung sind in einem größeren Kontext der Veränderung unserer Arbeitswelt zu sehen und nicht allein pandemiebedingt. Schon im Kontext der seit einigen Jahren intensivierten Debatte um „New Work“ wurden maßgebliche Trends in Bezug auf Hierarchieabbau, ein Mehr an Selbstorganisation, agile Arbeits- und Führungskonzepte und die daraus folgenden Veränderungen für Rollenbilder und Kompetenzen von Führungskräften diskutiert. Die Pandemie hat diese Veränderungen stark beschleunigt und mit einem Zuwachs an Erfahrungen bereichert, der vor dem März 2020 so kaum denkbar war. Der viel zitierte „Booster“ und Brennglaseffekt wirkt also auch hier. Dennoch: Corona ist ein maßgeblicher, aber keinesfalls alleiniger Treiber dieser Veränderungen auf dem Weg zu einer immer stärker digitalen Wissens- und Arbeitsgesellschaft.
Die Debatte um moderne Führungskonzepte für New Work ist Resultat verschiedener Entwicklungsrichtungen, die bereits seit längerem in Gange sind: der Trend zur Wissensgesellschaft, veränderte Erwartungen junger Erwachsener an Beteiligung und Mitverantwortung in ihrem Arbeitsumfeld, eine rasante Digitalisierung, die Nachfrage nach agilen Prozessen und Strukturen und nicht zuletzt die wachsende Bedeutung von Sinnstiftung durch die Arbeit selbst. In Zeiten der Klimakrise und der kriegsbedingten Energieverteuerung ist gerade Nachhaltigkeit ein immer wichtigeres Thema. Hier ist die Branche schon recht gut unterwegs.
Arbeitswelt der Zukunft ist hybrid
Unter hybriden Arbeitsformen verstehen wir dabei solche, die ortspräsente und ortsmobile Arbeit in großer Selbstverständlichkeit mischen, und zwar sowohl in synchroner als auch in asynchroner Form. Das bedeutet: Die Einzelnen können unter mehr oder weniger strikten Rahmenbedingungen wählen, wo sie arbeiten und sich damit tage- oder stundenweise zwischen Büro und anderen Arbeitsorten entscheiden (asynchrone Hybridität). Umgekehrt bedeutet das auch, dass Situationen zunehmen werden, in denen Personen an einem Ort mit solchen in virtueller Zusammenschaltung zu einem Zeitpunkt zusammenarbeiten (synchrone Hybridität). Nach der Pandemie können wir davon ausgehen, dass die Arbeitswelt der Zukunft hybrid ist.
Diese Aussage gilt auch für die chemisch-pharmazeutische Industrie. Und dabei kann auf einer stark gewachsenen Nutzungsfrequenz und Medienkompetenz der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie der Führungskräfte im Umgang mit Kollaborationstechnologien aufgebaut werden. Kollaborationstechnologien sind selbstverständlicher Alltag geworden, das belegen die Angaben der Befragten. Dennoch wird auch bestätigt: Das direkte Gespräch darf nicht zu kurz kommen! Fast 90 Prozent der Führungskräfte nutzen täglich selbst Kollaborationstools, um mit Mitarbeitern und Kollegen zu kommunizieren. Dabei bemerken knapp 30 Prozent der Befragten die Herausforderung, in der Vielzahl der Tools den Überblick zu behalten, und fast die Hälfte thematisiert auch den damit erhöhten zeitlichen Aufwand, die notwendige Kompetenz dazuzugewinnen. Über die Hälfte monieren auch den Verlust des direkten Gespräches durch die Distanz. Der Führungsalltag ist nicht einfacher geworden.
Führungskräfte suchen Kontakt
Den Führungskräften ist es wichtig, trotz räumlicher Distanz in engem Kontakt zu den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu sein. Doch dies ist herausfordernd in der Umsetzung und für rund 30 Prozent der Befragten nicht immer machbar gewesen. Das Delegieren von Arbeit über Distanz ist im Vergleich dazu weniger herausfordernd. Aber für die Mitarbeiterbetreuung im engeren Sinne gibt es oft zu wenig Zeit, das zeigen die Zahlen. Das liegt auch an der immer noch starken operativen Einbindung der Führungskräfte.
Die Führungskräfte sind selbst noch zu einem hohen Anteil mit Projekt- und Sachaufgaben betraut – auch Meetings und übergeordnete Reportingaufgaben nehmen für insgesamt knapp 80 Prozent einiges an Zeit in Anspruch. Dementsprechend bejahen nur knapp 17 Prozent voll und ganz die Aussage, ausreichend Zeit für Mitarbeiterbetreuung zu haben, für knapp 38 Prozent trifft dies eher zu. Diese Belastungssituation gehört gerade auf den mittleren Führungsebenen leider zum Alltag und stellt ein strukturelles Problem dar. Letztlich geht es dabei um die Frage, wie viel Zeit für echte Führungsarbeit gegeben ist und wie groß die umgesetzten Führungsspannen sind. Dieses Zeitproblem lässt sich auch in anderen Branchen auf breiter Front beobachten. Dies ist eine der wesentlichen Rahmenbedingungen gelingender Führung und benötigt letztlich mehr Zeit und damit Ressourcen für Führungsarbeit – sei es durch verringerte Führungsspannen oder durch Umorganisation der den Führungskräften zugeordneten Aufgaben.
Kommunikation als Kernzutat
Mit Blick auf die Wirkungen der pandemiebedingten Arbeitssituation und die Frage nach der primären Charakterisierung der Führungsarbeit bestätigten die befragten Führungskräfte eine Zunahme der Bedeutung von Kommunikation – über alle Kanäle – im Führungsalltag. Gefragt nach den individuellen Anpassungen an die hybride Arbeitswelt benennen die Befragten insbesondere ihr Bemühen, die technischen Kommunikationsmedien nutzen zu können, deren breite Klaviatur zu beherrschen sowie expliziter und aktiver auf die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zuzugehen. Eine vertrauensorientierte Führung und wenig Kontrollfixierung waren dabei für die Mehrzahl der Befragten bereits vor der Pandemie Realität.
Die Förderung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie die Verbesserung der Arbeitgeberattraktivität sind die mit Abstand wichtigsten Effekte, die mit dem Angebot orts- und zeitflexibler Arbeitsformen in der Chemie- und Pharmaindustrie erreicht werden. Dieser Kernnutzen vor allem von orts- und zeitflexibler Arbeit wird auch in anderen Branchen als klarer Effekt benannt. Relativ viel Zustimmung erhält die Aussage, dass diese Arbeitsformen die Krisenresilienz der Organisation stärken. Hier dürften die letzten zwei Jahre einen wesentlichen Erfahrungsraum geboten haben. In vielen Bereichen, so die Erfahrung, konnte aufgrund der Nutzung insbesondere ortsflexibler Arbeitsformen trotz Pandemiebedingungen dennoch gut weitergearbeitet werden, zumindest in den indirekten Bereichen. Etwas weniger, aber immer noch eine große Anzahl von Befragten bestätigt überdies, dass auch neue Serviceformen möglich werden. Insgesamt werden orts- und zeitflexiblen Arbeitsformen sehr breite, positive Wirkungen zugeschrieben.
Als negative Kehrseite werden Entgrenzungseffekte genannt, also das Verschwimmen von Privat- und Berufsleben, sowie der Verlust von Informalität in der Beziehung zwischen Kolleginnen und Kollegen sowie Führungskräften. Allerdings ist zu betonen, dass die Varianz, also die Spannbreite in den Antworten, bei dieser Frage sehr groß ist. Das heißt übersetzt: Man kann das gut bewältigen – offenbar gibt es hohes Gestaltungspotenzial –, teilweise gelingt dies aber wohl nicht. Auch andere Studien des Fraunhofer IAO zeigen, dass insbesondere auf den langfristigen Gesundheitseffekten orts- und zeitflexibler Arbeitsformen in Zukunft ein klares Augenmerk gelegt werden sollte.
Die Befragung zeigt weiterhin, dass der Verlust von Kontrolle oder die erschwerte Sichtbarkeit von Leistungen kein großes Thema für die Befragten ist. Das ist insofern sehr interessant, als dass die möglicherweise abnehmende Kontrollierbarkeit und Steuerungsfähigkeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Zeiten vor der Pandemie ein häufig genanntes Argument gegen die Nutzung ortsflexibler Arbeitsformen war. Dieses hat sich sehr breit nicht bestätigt, auch in der Chemie- und Pharmabranche.
Insgesamt zeichnen die Führungskräfte ein sehr modernes Führungsverständnis von sich, das geprägt ist durch starke Mitarbeiterorientierung, bei dem das Wohl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an erster Stelle steht. Auch geben mehr als 44 Prozent (voll und ganz) beziehungsweise 53 Prozent (trifft eher zu) der Befragten an, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei wichtigen Entscheidungen einzubinden. „Einbindung“ ist ein interpretationsfähiger Begriff. Er kann reichen von Information über Ideeneinbringung bis hin zur gemeinsamen Entscheidungsfindung. Doch klar ist auch, dass angesichts der Qualifikationsentwicklungen in der Belegschaft sowie mit Blick auf die nachwachsende Generation von Leistungsträgern alte Prinzipien von „oben wird gedacht, unten wird gemacht“ nicht zukunftsfähig sind. Dass diese Erkenntnis auch bei den Befragten vorherrscht, zeigt sich in den Ergebnissen der Umfrage.
Geteilte Führung im Kommen
Es hat uns zusätzlich interessiert, inwieweit auch mit neuen organisatorischen Formen von Führung gearbeitet wird. Dazu gehören Konzepte wie „geteilte Führung“, also der Fall, dass sich – in der Regel zwei – Führungskräfte einen Verantwortungsbereich teilen, oder Modelle der „Führung auf Zeit“, die das ansonsten weit verbreitete Prinzip „einmal Führungskraft – immer Führungskraft“ infrage stellen und den Wechsel von einer Führungsposition zurück in eine Fach- oder Expertenfunktion nicht als Abstieg, sondern als selbstverständlichen Entwicklungsweg umsetzen. Geteilte Führung ist für 20 Prozent der Befragten Realität und sinnvoll, für weitere elf Prozent zwar realisiert, aber als nicht sinnvoll bewertet. Führung auf Zeit wird von gut elf Prozent als sinnvoll bewertet, von knapp fünf Prozent als nicht sinnvoll eingestuft. Also: gute Ansätze, aber sehr ausbaufähig. Echt machtverändernde Organisationsformen wie demokratisch gewählte Führungskräfte gibt es im niedrigsten einstelligen Prozentbereich.
Insgesamt zeigt sich in der Befragung noch eine große Beharrung auf tradierten Führungsformen. Dies lässt sich übrigens in fast allen Bereichen der deutschen Wirtschaft konstatieren. Wirklich neue Modelle findet man am ehesten in Start-up-Strukturen. Hier bleiben viele Möglichkeiten ungenutzt. Denn wir dürfen nicht vergessen: Wir werden uns in Zukunft anstrengen müssen, gute Führungskräfte zu finden. Unterschiedliche Studien auch des Fraunhofer IAO der letzten Jahre zeigen, dass klassische Führungskarrieren nicht mehr als selbstverständlich anzustrebendes Ziel anzusehen sind.
Knapp drei Viertel der Befragten geben an: Das von ihnen geforderte Führungsverhalten in Bezug auf Mitarbeiterentwicklung und Gesundheitsfürsorge ist auch in der jeweils eigenen Bewertung relevant. Dennoch bleibt ein Viertel der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die angeben, dass es bei Ihnen keine konsequente Umsetzung dieser Anforderungen im Bewertungssystem für Führungskräfte gibt. Warum ist das wichtig? Wünschenswerte Veränderungen im Verhalten werden nur dann wirksam umgesetzt, wenn sie sich auch in so bestimmenden Rahmenbedingungen wie der Bonifikation, den Auswahlkriterien und der Bewertung von Führungskräften widerspiegeln. Das wird für die Zukunft ein wichtiges Gestaltungsgebiet werden, wenn Führungsarbeit nachhaltig verändert und wertgeschätzt werden soll. Hier ist also noch viel Luft nach oben.
Führungskraft als Veränderungsbegleiter
Eine wichtige Frage war die, welches Zukunftsbild die Befragten in Bezug auf die Funktion beziehungsweise Kernaufgabe der Führungskräfte in der zukünftigen Arbeitswelt favorisieren. Die Befragten sehen zukünftige Führungsarbeit vor allem in der Interpretation des Veränderungsbegleiters der betreuten Personen. Das spiegelt die Volatilität unserer Wettbewerbungsumgebung und die Erkenntnis, dass alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Zukunft deutlich anpassungsbereiter sein müssen – ohne dass in jedem Fall auch langfristige Planungen möglich wären, da die Entwicklungen sehr dynamisch sind. Führung ist damit potenzialorientiert, kann nur im engen Dialog, unter Wahrnehmung von Verhalten und Talenten erfolgen. Das braucht kommunikatives Talent und auch viel Zeit. Es wird spannend, dies in den Implikationen mit den Verantwortungsträgern zu diskutieren.
Führung muss sich verändern, wenn sie auch in Zukunft ihre Aufgabe in zunehmend volatilen und dynamischen Zeiten bewältigen will. Die Befragung zeigt die wesentlichen Entwicklungstrends, aber auch die Baustellen, die noch bestehen. Dieser Weiterentwicklungsbedarf umfasst Themen wie neue Organisationsformen der Führung genauso wie die aktive Weiterentwicklung der vorherrschenden Rollenbilder für Führung und die dazu gehörigen Kompetenzen der Rolleninhaber.
Die künftig erwartbare hybride Arbeitssituation mit einem selbstverständlichen Mix von ortspräsenter und virtueller Arbeit ist ein wesentlicher Faktor, der in Zukunft Führungsarbeit mit Veränderungen konfrontieren wird. Es werden erhebliche Anstrengungen nötig sein, die auch vor den übergreifenden Anreiz- und Führungssystemen nicht anhalten dürfen. Denn die Umsetzung all dieser Veränderungen erscheint wenig wahrscheinlich, wenn diese zwar benannt werden, dann aber für faktische Beförderungs- und Incentivierungsentscheidungen letztlich keine Rolle spielen. Wirksamkeit von Veränderungsimpulsen setzt Spürbarkeit sowie Aufmerksamkeit und explizite Würdigung voraus. Die Befragung hat wichtige Ansatzpunkte weiterentwickelter Service- und Schulungsangebote herausgearbeitet, um die Fach- und Führungskräfte in ihrer Wirksamkeit bestmöglich zu unterstützen.
Dieser Artikel ist eine gekürzte Fassung des Beitrags, den Dr. Josephine Hofmann für das VAA-Jahrbuch 2022 verfasst hat. Das Jahrbuch erscheint Ende Oktober.
New Work ist kein Selbstzweck – Interview mit Dr. Florian Krause
Dr. Florian Krause forscht, lehrt und berät als Postdoc am Institut für interdisziplinäre Arbeitswissenschaft der Universität Hannover und am Institut für Wirtschaftsethik der Universität St. Gallen. Krause hat Philosophie und Volkswirtschaftslehre an der Universität Trier studiert und an der Universität Hannover promoviert.
VAA Magazin: Welches Projekt, an dem Sie zurzeit arbeiten, möchten Sie besonders hervorheben?
Krause: Aktuell beschäftige ich mich vor allem mit ethischen und arbeitswissenschaftlichen Fragen im Rahmen digitaler Transformationsprozesse. Neue Technologien ermöglichen neue Arten der Organisation und Arbeit. Gängige Arbeitsnormen, gesetzliche Rahmenbedingungen, soziale Sicherungssysteme sowie ethische Vorstellungen beziehen sich naturgemäß jedoch auf etablierte Formen von Arbeit und Organisation – sowie auf gegebene Vorstellungen von Technik. Verändern sich nun Technik und auch die Art und Weise, wie Arbeit gemacht und organisiert wird, wirft dies diverse Fragen in Bereichen der Arbeitsorganisation, Arbeitsplatzgestaltung, Führung, Datensicherheit, Nachhaltigkeit et cetera auf, die ich arbeitswissenschaftlich und ethisch betrachte.
Welche Betrachtungsweise wünschen Sie sich in Bezug auf New Work?
Ich würde mir für New Work eine nüchternere Betrachtungsweise wünschen. Viele Formen der Arbeit, die aktuell mit dem Begriff New Work verbunden werden, sind an sich keineswegs neu. Neu sind vor allem die Kontexte, in denen sie angewandt werden. Diverse Chancen, aber eben auch Herausforderungen dieser Formen des Arbeitens für die arbeitende Person und auch die Organisation sind ebenfalls bereits bekannt.
New Work ist für mich kein Selbstzweck: Neue Formen der Organisation und Arbeit sollten generell so gestaltet werden, dass sie sowohl effiziente und sichere Prozesse sicherstellen als auch physisch und psychisch gesunderhalten. Hier bieten neue Technologien und veränderte Normen des Arbeitens große Chancen, aber auch erkennbare Probleme. Ein besonderes Anliegen ist mir daher die vernünftige Ausgestaltung neuer Formen von Organisation und Arbeit.
Zahlen und Fakten
Vier Tage
könnte die Arbeitswoche der Zukunft lang sein – bei gleichbleibender Lohnfortzahlung. Diese Idee wurde in zwei Feldversuchen über vier Jahre in einem Teil der isländischen Bevölkerung getestet. Zwischen 2015 und 2019 durften 2.500 Arbeitnehmer – ein Prozent der Berufstätigen in Island – ihre Wochenarbeitszeit von 40 auf 35 oder 36 Stunden reduzieren, verteilt auf vier Arbeitstage. Die Befragten empfanden bei gleichbleibenden Leistungs- und Produktivitätsstandards ein größeres Wohlbefinden, eine verbesserte Work-Life-Balance und ein besseres Teamgefühl. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Studien im Juni 2021 haben isländische Gewerkschaften und Verbände schließlich eine dauerhafte Arbeitszeitverkürzung verhandelt: 86 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung haben das Recht auf kürzere Arbeitszeiten.
Von 14
gängigen, gesicherten psychischen Fehlbelastungen am Arbeitsplatz treten mindestens elf bei dezentraler, selbstorganisierter Arbeit, zum Beispiel im Homeoffice, je nach Situation besonders auf. Dr. Florian Krause vom Institut für interdisziplinäre Arbeitswissenschaft der Universität Hannover zufolge zählen hierzu insbesondere häufige Arbeitsunterbrechungen und Störungen im Ablauf, soziale Isolation, emotionale Dissonanz, Konflikte sowie erlebte Ungerechtigkeit. Dazu kommen häufig mittelfristig relevante physische Fehlbelastungen durch schlechte Ergonomie, zu wenig Licht und schlechter Luft. Die unter Begriffen wie Work-Live-Blending gern genannten Vorteile dezentraler, selbstorganisierter Arbeit lassen sich nur dann nachhaltig nutzen, wenn auch diese Form von Arbeit gesundheitsförderlich gestaltet wird.
Bereits 1977
legte der 2021 verstorbene Frithjof Bergmann in seinem Buch „On Being Free“ die Grundlagen für das 2004 veröffentlichte, thematisch anknüpfende Werk „Neue Arbeit, Neue Kultur“. Darin erläutert der als zentrale Figur für den Ursprung des Begriffes „New Work“ geltende Bergmann eine Gesellschaftsutopie, in der alle Menschen, unter anderem ermöglicht durch neue Technologien, das tun können, was sie „wirklich, wirklich wollen“. Seine Ausführungen haben jedoch nur noch wenig mit der aktuellen New-Work-Diskussion zu tun.
Zwei bis drei
Tage dezentrales, selbstorganisiertes Arbeiten pro Woche zeichnen sich in den meisten Bereichen als sinnvolles Maß ab, berichtet Arbeitswissenschaftler Dr. Florian Krause von der Universität Hannover. In diesem Rahmen lassen sich individuelle Flexibilitätsbedürfnisse und betriebliche Koordinationsanforderungen meist noch gut zusammenbringen. Bei mehr Tagen treten Nachteile dezentraler Arbeit immer stärker zutage: Der fehlende Flurfunk und der Mangel an sozialem Austausch fördern die Unsicherheit. Auch werden die individuelle Orientierung bei Problemen und die organisationale Abstimmung erschwert. Führungskräften und auch Interessenvertretungen fällt es zudem schwerer, Handlungsbedarfe zu erkennen.